Rz. 93
Der Antrag auf Abschluss eines Versicherungsvertrages und die in diesem Zusammenhang abgegebenen Erklärungen können wegen Irrtums (§ 119 BGB) und wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) angefochten werden. Auf das Anfechtungsrecht wegen Irrtums wird in § 5 Abs. 4 VVG ausdrücklich hingewiesen.
1. Irrtumsanfechtung
Rz. 94
Die Irrtumsanfechtung gem. § 119 Abs. 1 BGB ist in beiden Alternativen (Erklärungsirrtum oder Inhaltsirrtum) möglich. Die Anfechtung nach § 119 BGB muss unverzüglich nach Kenntnis des Anfechtungsgrundes erklärt werden (§ 121 BGB). Bei wirksamer und fristgerechter Anfechtung ist der Versicherungsvertrag von Anfang an nichtig (§ 142 BGB).
Bei Nichtigkeit des Vertrages durch Anfechtung des Versicherers wegen arglistiger Täuschung kann der Versicherer bereits erbrachte Leistungen gem. § 812 BGB zurückfordern; demgegenüber hat der Versicherungsnehmer gem. § 39 VVG keinen Rückforderungsanspruch wegen der geleisteten Prämien. § 39 Abs. 1 S. 2 VVG bestimmt ausdrücklich, dass dem Versicherer die Prämie bis zur Wirksamkeit der Anfechtungserklärung zusteht.
Der Versicherungsnehmer hat ein uneingeschränktes Anfechtungsrecht gem. §§ 119 ff. und § 123 BGB. Der Versicherer kann in der Regel nur gem. § 123 BGB anfechten (§ 22 VVG).
Der Versicherer kann wegen Erklärungsirrtums anfechten, wenn die Police wegen fehlerhafter Bedienung der EDV-Anlage einen unrichtigen Inhalt hat.
2. Anfechtung wegen arglistiger Täuschung
Rz. 95
Versicherer und Versicherungsnehmer können gleichermaßen einen Versicherungsvertrag wegen arglistiger Täuschung gem. § 123 BGB anfechten. Ein im Voraus vereinbarter Ausschluss des Anfechtungsrechts gem. § 123 BGB ist unwirksam.
Rz. 96
Für den Versicherer bestimmt § 22 VVG, dass er bei allen denkbaren Täuschungshandlungen anfechten kann. Es gilt die Jahresfrist gem. § 124 BGB. Eine arglistige Täuschung durch den Versicherungsnehmer liegt beispielsweise vor, wenn im Antrag falsche Angaben zu Erkrankungen oder Vorschäden gemacht werden. Die Anfechtung führt zur Nichtigkeit des gesamten Vertrages.
Rz. 97
Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass eine bewusst unrichtige Beantwortung einer vom Versicherer gestellten Frage immer und nur in der Absicht erfolgt, auf den Willen des Versicherers einzuwirken. Eine arglistige Täuschung setzt eine Vorspiegelung falscher oder ein Verschweigen wahrer Tatsachen zum Zweck der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums voraus. Der Versicherungsnehmer muss vorsätzlich handeln, indem er bewusst und willentlich auf die Entscheidung des Versicherers einwirkt.
Rz. 98
Umgekehrt kann auch der Versicherungsnehmer den Vertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten, wenn er durch arglistige Täuschung des Versicherungsvermittlers zum Abschluss des Vertrages veranlasst worden ist. Insoweit ist der Agent nicht "Dritter" i.S.v. § 123 Abs. 2 BGB, vielmehr wird das Handeln der Angestellten oder Agenten des Versicherers diesem unmittelbar gem. § 278 BGB oder gewohnheitsrechtlich zugerechnet.
Die Anfechtung ist auch zulässig, wenn dem Versicherer die Anfechtungsgründe durch eine unwirksame Schweigepflichtserklärung bekannt werden.
Rz. 99
Der BGH hat in einer Entscheidung vom 25.3.1992 das Anfechtungsrecht des Versicherers wegen arglistiger Täuschung verneint, weil dieser bei Beachtung seiner Nachfrageobliegenheit die falschen Angaben hätte erkennen können: Der Versicherungsnehmer einer Lebensversicherung hatte bei Antragstellung die Frage nach Vorerkrankungen nicht eindeutig beantwortet, aber den behandelnden Arzt namentlich benannt und diesen auch umfassend von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden.
Diese Rechtsprechung hat der BGH durch Beschl. v. 15.3.2006 ausdrücklich aufgehoben und eine Nachfrageobliegenheit bei arglistiger Täuschung ausdrücklich verneint.
Wenn der Versicherungsnehmer mit einem versteckten Hinweis es darauf anlegt, sich die Früchte seiner unerkennbaren arglistigen Täuschung zu erhalten, ist er nicht schutzwürdig.
Rz. 100
Bei der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung kann die Nichtigkeitsfolge nicht nach § 242 BGB dahingehend beschränkt werden, dass Leistungsfreiheit nur für die Zukunft besteht; sie gilt auch für bereits abgewickelte Schadenfälle, so dass der Versicherungsnehmer empfangene Leistungen zurückgewähren muss, während der Versicherer die Prämien bis zur Wirksamkeit der Anfechtungserklärung behalten darf (§ 39 Abs. 1 S. 2 VVG).
Die Beweislast für das Vorliegen von Anfechtungsgründen gem. § 123 BGB hat der Anfechtende. Die Anfechtung muss binnen Jahresfrist erfolgen (§ 124 Abs. 1 BGB). Die Anfechtung ist ausgeschlossen, wenn seit Abgabe der Willenserklärung zehn Jahre verstrichen sind (§ 124 Abs. 3 BGB).
Bewusst unrichtige Angaben im Antrag sind ein Indiz für Arglist.
Rz. 101
Beispiele
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Der Versicherungsnehmer hat bei Beantragung der Berufsunfähigkeitsversicherung die Frage nach regelmäßigem Alkoholkonsum vern... |