Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 164
Der Schwerpunkt des Kindergeldrechts liegt heute im Einkommensteuerrecht (§§ 31 f., 62 ff. EStG). Das Kindergeld ist keine klassische Sozialleistung i.S.d. sozialen Nachteilsausgleichs mehr.
Rz. 165
Der Bezug von Kindergeld kann für einen behinderten Menschen im Zusammenhang mit Erbfall oder Schenkung aber eine ganz besondere Bedeutung haben, nämlich dann, wenn der behinderte Mensch ohne diese Leistung bedürftig wäre und neben den Leistungen der Eingliederungshilfe (SGB IX) auch Leistungen der existenziellen Sicherung nach dem SGB XII beziehen müsste. Was sind das für Fälle?
Rz. 166
Das SGB XII hält jeden Zufluss in Geld oder Geldeswert (§§ 82 ff. SGB XII) im Bedarfszeitraum für anrechenbares Einkommen und kennt für Geld nur einen Vermögensschonbetrag (§ 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII) von 5.000 EUR. Jeder darüberhinausgehende Zufluss ist einzusetzen. Für Leistungen der Eingliederungshilfe gelten seit dem 1.1.2020 andere Regeln. Die Eingliederungshilfe folgt seither dem steuerrechtlichen Einkommensbegriff (§§ 135 ff. SGB IX) und hat nach § 139 SGB IX einen Vermögensschonbetrag von 150 % der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV (59.220 EUR in den alten Bundesländern Stand 2021).
Rz. 167
Wer als Mensch mit Behinderungen keine Leistungen nach dem SGB XII benötigt, sondern nur Eingliederungshilfe nach den §§ 90 ff. SGB IX, der kann von einem Zufluss aus Erbschaft oder Schenkung bis zur Höhe dieses Vermögensschonbetrages unmittelbar partizipieren, der SGB XII-Bezieher allenfalls in sehr reduziertem Umfang.
Rz. 168
Fallbeispiel 6: Die erwerbstätige behinderte Tochter und der Erbfall nach dem Rentner
Die 29-jährige Tochter T ist behindert. Sie hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und lebt in einer Wohngemeinschaft, in der sie Assistenzleistungen der Eingliederungshilfe nach SGB IX erhält. Sie arbeitet an einem Arbeitsplatz, der ihrer maximalen Leistungsfähigkeit entspricht. Daraus erzielt sie Einkünfte in Höhe von 730 EUR monatlich netto.
Ihr Vater, der Rentner war, verstirbt und es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die 50.000 EUR haben, die T aus dem Nachlass erhalten wird.
Ändert sich etwas, wenn T statt der 50.000 EUR monatliche Zuwendungen aus dem Nachlass in Höhe von 500 EUR monatlich erhält?
Rz. 169
Der monatliche Bedarf der Tochter T setzt sich zusammen aus
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dem Bedarf zur Existenzsicherung und |
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dem Bedarf an Eingliederungshilfe (§§ 90 ff., 113 SGB IX). |
Der sozialhilferechtliche Regelbedarf der T zur Existenzsicherung beträgt 2021 in der Regelbedarfsstufe 1 monatlich 446 EUR zzgl. Kosten für Unterkunft, Heizung und Warmwasser. Er lässt sich durch die Eigeneinkünfte der T nicht vollständig decken, so dass an sich ergänzende Grundsicherungsleistungen erforderlich sind. Der Zufluss von 50.000 EUR aus einer Erbschaft im Leistungszeitraum ist sozialhilferechtlich Einkommen, das sich nach einem gewissen Zeitraum nach § 82 Abs. 7 SGB XII in Vermögen umwandeln kann. Grundsätzlich besteht eine Einsatzpflicht des Zuflusses aus Erbfall als Einkommen. Entfiele der Leistungsanspruch durch die Berücksichtigung des Zuflusses in einem Monat, so ist die einmalige Einnahme auf einen Zeitraum von sechs Monaten gleichmäßig aufzuteilen und monatlich mit einem entsprechenden Teilbetrag zu berücksichtigen. Der Restbetrag ist Vermögen, das nur in einem sehr begrenzten Umfang als Barbetrag geschont ist.
Rz. 170
Könnte die Tochter ihren existenziellen Bedarf aber durch weiteres – anderes – eigenes Einkommen decken und wäre sie dann nur hinsichtlich der Eingliederungshilfe bedürftig, so könnte sie den gesamten Betrag aus Erbfall als Schonvermögen nach § 139 SGB IX vereinnahmen. Für die letztwillige wie für die lebzeitige Zuwendungsplanung ist die Kenntnis über die Möglichkeit, den existenziellen Bedarf grundsätzlich selbst sichern zu können, daher von erheblicher Bedeutung.
Rz. 171
Ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird beim Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor der Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Rz. 172
Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen:
Rz. 173
Auf der einen Seite steht der allgemeine Lebensbedarf. Das ist ein am Existenzminimum orientierter Betrag. Zur Bemessung des Grundbedarfs wird nach der Rechtsprechung an den Grundfreibetrag i.S.d. § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG (9.744 EUR p.a. = 812 EUR monatlich in 2021) angeknüpft und an den behinderungsbedingten Mehrbedarf, der je nach Grad der Behinderung pauschaliert n...