Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 191
Zum Recht der sozialen Hilfen gehört nach § 9 SGB I die Sozialhilfe. Sozialhilfe wird dabei im weitesten Sinne verstanden (also auch § 19a SGB I) und nicht nur auf Leistungen nach § 28 SGB I i.V.m. dem SGB XII begrenzt. Das SGB XII ist klassisches Sozialhilferecht, also Auffangnetz, "wenn nichts mehr geht". Rechtssystematisch ist eine Beschränkung des Begriffs "Sozialhilfe" auf das Sozialhilferecht des SGB XII nicht zwingend geboten. Auch das SGB II, als Nachfolger der Arbeitslosenhilfe, ist deshalb im erweiterten Sinne Sozialhilfe.
Rz. 192
Sozialhilfe ist ein "soziales Recht" i.S.d. SGB I. § 9 S. 1 SGB I definiert Sozialhilfe als
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ein Recht auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, |
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die zur Selbsthilfe befähigt, |
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dem besonderen Bedarf entspricht |
und eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert.
Rz. 193
Sozialhilfe kann nach § 9 S. 1 SGB I beanspruchen, wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften
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seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder |
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in besonderen Lebenslagen sich selbst zu helfen, |
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und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält. |
Hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein ungedeckter Bedarf, der unter Beachtung des gesetzlich angeordneten Nachrangs und je nach der Lage des Hilfebedürftigen nach den Regeln und mit den Mitteln
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der Sozialhilfe (SGB XII) und/oder |
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der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) |
aus Steuermitteln gedeckt wird. Die Selbsthilfeverpflichtung gilt als Ausdruck der Menschenwürde.
(1) Die Abgrenzung der Existenzsicherungsleistungen von SGB II und SGB XII
Rz. 194
SGB XII und SGB II zielen auf unterschiedliche Personengruppen ab, haben unterschiedliche Einkommens- und Vermögensbegriffe, unterschiedliche Schontatbestände und deshalb auch unterschiedliche Regressformen: Sie müssen daher voneinander unterschieden werden.
Rz. 195
Fallbeispiel 7: Die großzügige Mutter II
Die Mutter M will ihrer Tochter T 1 im Wege der vorweggenommenen Erbfolge einen Nießbrauch an einer Wohnung zuwenden und 100.000 EUR, weil die zweite Tochter auch schon Geld erhalten habe. Sie bittet 2021 um Erstellung eines Zuwendungsvertrages für ihre Tochter.
Sie berichtet, dass ihre 55-jährige Tochter T 1 bereits seit Jahren keinen Job mehr habe und ziemlich viele Schulden. Anfangs sei sie krank gewesen, dann "ausgesteuert". Sie habe zunächst Arbeitslosengeld bezogen und sei jetzt voll erwerbsgemindert. Sie beziehe seit sechs Jahren 450 EUR Erwerbsminderungsrente, jetzt befristet bis zum 31.12.2022. Sie erhalte "vom Amt" ergänzende Hilfe für Unterkunft und Heizung. Die Tochter wolle aber sehen, dass sie doch bald wieder auf eigenen Füßen stehe und arbeiten gehen könne. Vielleicht ziehe sie auch mit ihrem Freund zusammen.
Rz. 196
Der Fall zeigt eine Vielzahl von Fragen auf, die sich aus der Bedürftigkeit der Tochter ergeben. Zunächst muss deshalb ermittelt werden, von welchem "Amt" die Tochter aktuell Leistungen neben ihrer Rente (SGB VI) erhält und wie sich die gedachte Zuwendung auf den konkreten aktuellen und zukünftigen Leistungsbezug auswirken kann. Stets geht es für den Zuwendenden darum, mit dem zivilrechtlich zulässigen Instrumentarium so zu navigieren, dass daraus keine leistungseinschränkenden oder -vernichtenden Konsequenzen für den Hilfesuchenden im sozialhilferechtlichen Leistungsverhältnis resultieren. Ohne Abgrenzung der Leistungssysteme gegeneinander kann man den Fall – in Gegenwart und Zukunft gedacht – nicht zutreffend lösen.
Rz. 197
§ 21 SGB XII, §§ 5, 7, 19 SGB II grenzen die Leistungen und den berechtigten Personenkreis der beiden Existenzsicherungssysteme für deren Elementarbedarf voneinander ab.
Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 SGB II Personen, die
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das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, |
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erwerbsfähig sind, |
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hilfebedürftig sind und |
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ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. |
Rz. 198
Das maßgebliche Unterscheidungskriterium zum SGB XII ist die Erwerbsfähigkeit bzw. das Leben mit einem Erwerbsfähigen in einer Bedarfsgemeinschaft. Was Erwerbsfähigkeit bedeutet, wird in § 8 SGB II definiert. Die "gesundheitliche" Erwerbsfähigkeit greift auf die Definition des § 43 SGB VI im Rentenversicherungsrecht zurück. Gesundheitlich erwerbsfähig ist, wer nicht voll erwerbsgemindert ist.
Rz. 199
Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI wird nach folgenden Kriterien festgestellt:
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Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt dauerhaft weniger als drei Stunden = volle Erwerbsminderungsrente = kein Arbeitslosengeld II/Leistungen nach SGB XII |
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Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt drei bis unter sechs Stunden = teilweise erwerbsgemindert bei Vermittlungsmöglichkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt = erwerbsfähig i.S.... |