Rz. 264
Ziel jeder Auslegung ist es, den tatsächlichen Willen des Erblassers zu ermitteln (§ 133 BGB). Hierfür ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung maßgebend. Dabei kommt es bei einem Einzeltestament allein auf die Sicht des Erblassers an. Es ist zu klären, was der Erblasser in der Niederschrift aussagen wollte. § 157 BGB ist bei der Auslegung eines Einzeltestaments im Gegensatz zum gemeinschaftlichen Testament oder Erbvertrag nicht anzuwenden, da es beim Einzeltestament als einer einseitigen Erklärung auf den Empfängerhorizont gerade nicht ankommt.
Rz. 265
Bei der Auslegung der Verfügung von Todes wegen können aber alle Umstände zu berücksichtigen sein, die im Zusammenhang mit den im Testament enthaltenen Erklärungen stehen, wie z.B. das Verhalten, die Handlungen und die Äußerungen des Erblassers selbst, sofern sie einen Anhalt im Testament gefunden haben.
Rz. 266
Wegen der Formbedürftigkeit eines Testaments darf durch Auslegung aber kein anderer Wille des Erblassers ermittelt werden, als der, der zumindest andeutungsweise im Testament enthalten ist. Die Rechtsprechung hat in diesem Zusammenhang die so genannte Andeutungstheorie entwickelt. Jede Auslegung ist dahingehend zu überprüfen, ob der ermittelte Wille auch hinreichend im Testament verankert ist bzw. Anhaltspunkte dafür bietet.
Rz. 267
Die Tatsache, dass der Erblasserwille am Wortlaut des Testaments zu erforschen ist, bedeutet jedoch nicht, dass man sich auf eine Analyse des geschriebenen Wortes beschränken darf. Es können vielmehr auch alle außerhalb des Testaments liegenden Informationen und Umstände für die Auslegung herangezogen werden, sofern sie sich im Wortlaut niederschlagen.
Rz. 268
Nach der BGH-Rechtsprechung ist somit in erster Linie der tatsächliche Erblasserwille maßgebend, wenn er feststeht und formgerecht erklärt wurde. Für die Feststellung des Erblasserwillens ist in erster Linie vom Wortlaut des Testaments auszugehen. Soll bei der Auslegung vom Wortlaut abgewichen werden, so müssen hierfür besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Erblasser mit dem Gesagten etwas anderes gemeint hat. Ist der tatsächliche Wille des Erblassers trotz Auslegung nicht festzustellen, so ist in einem weiteren Schritt der mutmaßliche Wille des Erblassers zu ermitteln.
Rz. 269
Von der wörtlichen Auslegung zu unterscheiden ist die hypothetische Auslegung. Die hypothetische Auslegung greift in dem Fall, in dem es gilt, Veränderungen, die zwischen der Testamentserrichtung und dem Zeitpunkt des Erbfalls eingetreten sind, dem Willen des Erblassers anzupassen. Im Rahmen der hypothetischen Testamentsauslegung ist letztlich der Wille des Erblassers zu ermitteln, den dieser gehabt hätte, wenn er die späteren Veränderungen vorhergesehen oder bedacht hätte. Ein typischer Anwendungsfall der hypothetischen Auslegung sind beispielsweise die durch die Wiedervereinigung Deutschlands eingetretenen Veränderungen.
Rz. 270
Nach der Rechtsprechung des BayObLG soll eine hypothetische Auslegung auch dann möglich sein, wenn sich der Erblasser über tatsächliche Verhältnisse zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung geirrt hat. Das BayObLG begründet dies damit, eine Unvollkommenheit, die Voraussetzung für eine ergänzende Testamentsauslegung ist, könne sich auch daraus ergeben, dass der Erblasser die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Errichtung des Testaments falsch beurteilt hat. Beispielsweise, wenn der Erblasser fehlerhafte rechtliche Schlussfolgerungen gezogen oder sich über bestimmte Vertragsinhalte geirrt hat.
Rz. 271
Für den Fall, dass nach Ermittlung des Erblasserwillens und nach Auslegung der letztwilligen Verfügung nach den allgemeinen Vorschriften des BGB (§ 133 BGB) noch weitere offene Fragen bestehen und kein endgültiges Ergebnis erzielt wurde, kann auf die gesetzlichen Auslegungsvorschriften des Gesetzes zurückgegriffen werden, die nur im Zweifel eingreifen – aber wirklich erst nach Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen zur Erforschung des wirklichen konkreten Willens des Erblassers. Die Auslegungsregeln des BGB haben rein subsidiären Charakter.
Rz. 272
Das BGB enthält für jeden Bereich eigene Auslegungsregeln. So sind in den §§ 2066–2076 BGB allgemeine Auslegungsregeln für das Testament enthalten. Für die Erbeinsetzung sehen die §§ 2087–2099 BGB und für das Vermächtnis die §§ 2148 ff. BGB gesonderte Auslegungsregeln vor.