Dr. iur. Kerstin Diercks-Harms, Dr. iur. Rüdiger Brodhun
Rz. 1
Vielfach haben Forderungsinhaber und Anspruchsberechtigte Vorbehalte, ihre Ansprüche klageweise geltend zu machen. Es wird argumentiert, dass "Recht haben und Recht bekommen" zwei verschiedene Dinge, überdies Klageverfahren zu teuer seien und schließlich eine zu lange Prozessdauer Rechtsstreitigkeiten ineffektiv mache.
Rz. 2
Die erste Begründung verfängt nicht: Richtig ist, dass bei der Rechtsfindung des Gerichts der Grundsatz der "prozessualen Wahrheit" gilt und es deshalb wichtig ist, in einem Prozess den eigenen Sachvortrag ggf. auch beweisen zu können. Dazu dienen als Beweismittel vornehmlich Urkunden, z.B. Vertragsunterlagen, Lieferscheine, Rechnungen, Mahnungen. Die Erfolgsaussicht einer Klage sollte daraufhin geprüft werden. Ist ein Prozess riskant, etwa weil die Beweislage ungünstig ist, kann immer noch von einer Rechtsverfolgung abgesehen werden.
Rz. 3
Gegen das Kostenargument ist einzuwenden, dass beim Obsiegen schließlich der Schuldner (Beklagter) die Prozesskosten zu tragen hat, und im Übrigen vor dem Einreichen eines Mahnbescheids oder einer Klage geprüft werden sollte, ob der Schuldner (noch) solvent ist, um vergebliche Ausgaben zu vermeiden.
Rz. 4
Die Dauer der Prozesse vor den Amts- und Landgerichten ist kürzer, als gemeinhin angenommen wird. Zu berücksichtigen ist zunächst die hohe Anzahl der von den Zivilgerichten jährlich zu bearbeitenden Verfahren von ca. 1,5 Millionen. Die Eingangszahlen neuer erstinstanzlicher Zivilstreitigkeiten sind in den letzten Jahren eher rückläufig bei höheren Erledigungszahlen. Bei den Zivilgerichten hängt die Verfahrensdauer davon ab, ob in der ersten Instanz die Amtsgerichte oder die Landgerichte zuständig sind. Außerdem differiert die Verfahrenslänge je nach Bundesland erheblich.
Rz. 5
Der nachstehenden Übersicht können die entsprechende Anzahl der Gerichtsverfahren vor den Zivilgerichten erster Instanz in der Bundesrepublik Deutschland, die jährlichen Erledigungen und die Verfahrensdauer in Monaten im Bundesdurchschnitt laut der Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes für die letzten zehn Jahren bis zum Jahr 2021 entnommen werden:
Rz. 6
AMTSGERICHTE |
2013 |
2014 |
2015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
2021 |
Neuzugänge |
1.138.419 |
1.107.028 |
1.093.454 |
986.139 |
936.979 |
923.933 |
927.529 |
852.907 |
753.926 |
Erledigte Verfahren |
1.138.823 |
1.107.215 |
1.119.504 |
1.020.966 |
952.413 |
923.179 |
926.514 |
856.035 |
798.529 |
Verfahrensdauer in Monaten |
4,8 |
4,8 |
4,8 |
5,0 |
4,9 |
4,9 |
5,0 |
5,4 |
5,6 |
Rz. 7
Bei den Zivilgerichten (Stand: 2021) dauern Verfahren in der Eingangsinstanz (bundes-)durchschnittlich zwar nur 5,6 Monate (Amtsgerichte) bzw. 11,0 Monate (Landgerichte).
LANDGERICHTE |
2013 |
2014 |
2015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
2021 |
Neuzugänge |
358.792 |
332.044 |
330.035 |
321.996 |
307.718 |
338.021 |
354.721 |
366.296 |
330.219 |
Erledigte Verfahren |
348.651 |
334.499 |
332.085 |
322.371 |
308.026 |
303.993 |
341.481 |
340.527 |
340.741 |
Verfahrensdauer in Monaten |
8,7 |
9,1 |
9,9 |
9,9 |
11,7 |
10,4 |
10,4 |
10,5 |
11,0 |
Rz. 8
Die durchschnittliche Verfahrensdauer in den einzelnen Bundesländern zeigt aber deutliche Abweichungen sowohl nach oben als auch nach unten. Bei den Amtsgerichten liegt die Spannweite zwischen 4,5 und 7,5 Monaten, bei den Landgerichten zwischen 9,5 und 13,7 Monaten.
Rz. 9
19,3 % der Prozesse vor den Landgerichten bzw. 8,6 % der Prozesse vor den Amtsgerichten dauerten bundesweit im Übrigen im Jahr 2021 mehr als 12 Monate und 9,7 % der landgerichtlichen Prozesse bzw. 2,2 % der amtsgerichtlichen Prozesse mehr als 24 Monate. Im Jahr 2011 waren nur 1,2 % der Zivilverfahren bei den Amtsgerichten länger als 24 Monate anhängig; bei den Landgerichten waren es 6,3 %.
Rz. 10
Schon der Anteil der über 24 Monate bei einem Gericht anhängigen Verfahren ist also ausgesprochen gering.
Rz. 11
Verfahren mit überlanger Dauer sind in Deutschland keinesfalls an der Tagesordnung, sondern seltene Ausnahmen. Die deutsche Justiz nimmt europaweit wie auch international eine Spitzenstellung ein, welche sich auch in der Verfahrensdauer zeigt. Zudem besteht der Schutz vor überlangen Verfahren durch § 198 GVG in Form eines verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruchs in der Kombination mit einer Verzögerungsrüge bei dem mit der Sache befassten Gericht und ggf. einer nachfolgenden Entschädigungsklage.
Rz. 12
In einem ersten Schritt müssen die Betroffenen das Gericht, das nach ihrer Ansicht zu langsam arbeitet, mit einer Rüge auf die Verzögerung hinweisen. § 198 Abs. 3 S. 1 GVG stellt keine besonderen Anforderungen an die Form oder den Mindestinhalt einer Verzögerungsrüge, sondern verlangt lediglich, dass die "Dauer des Verfahrens gerügt" wird. Der Mandant hat einen Anlass zur Besorgnis nach § 198 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 GVG, wenn er erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Ausgangsverfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt. Es müssen objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtungsweise geeignet sind, zu einer unangemessenen Verfahrensdauer zu führen, ohne dass ein allzu strenger Maßstab angelegt werden darf. Durch die Rüge erhalte...