Rz. 58
Insbesondere die von der Rechtsprechung festgelegte enge Begrenzung von Schmerzensgeldforderungen auf erhebliche Schädigungen, die pathologisch fassbar sind, stieß in der Literatur zu Recht auf häufige Ablehnung (vgl. MüKo-Grunsky, Vor § 249 Rn 54 m.w.N.; Gontard, DAR 1990, 375; weitergehend: Staudinger-Schiemann, 1998, § 249 Rn 46). Diese stützt sich hauptsächlich auf das schlichte Vorhandensein einer Verletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, denn die Haftungsbegründung der Vorschrift fußt allein auf dem Krankheitswert der Beeinträchtigung, die sich in physischer wie auch psychischer Art darstellen kann. Bei Schockschäden darf die Frage, ob eine Beeinträchtigung unter § 823 Abs. 1 BGB zu fassen ist, nicht von einer außergewöhnlichen Schädigung abhängig gemacht werden, denn der Krankheitswert ist bereits durch die – sei es auch nur vorübergehende – Erkrankung, den Schock, der bereits medizinisch nachzuweisen ist, erreicht.
Rz. 59
Das Verlangen nach der Voraussetzung einer nicht mehr gewöhnlichen Schädigung würde nämlich bedeuten, dass die geschädigte dritte Person letztlich "selbst schuld" ist, wenn sie den plötzlichen Tod eines Elternteils oder eines Kindes, der aufgrund eines Unfalls erfolgte, mit nicht unerheblicher Anstrengung im Rahmen des gewöhnlichen Schocks bewältigen kann, also nicht in tiefste Depressionen ohne absehbares Ende verfällt, und deshalb nicht schmerzensgeldberechtigt ist.
Rz. 60
Zu berücksichtigen ist zudem, dass die medizinische Grenzziehung zwischen den gewöhnlichen und den ungewöhnlichen Störungen der Hinterbliebenen wegen der unterschiedlichen Ausgestaltung jeder Persönlichkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten möglich und damit uneinheitlich ist.
Rz. 61
Die Frage der Einführung eines Angehörigenschmerzensgeldes war rechtspolitisch also in hohem Maße brisant. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern (siehe unten Rdn 68) kannte das deutsche Recht keinen gesetzlich geregelten Anspruch für eine immaterielle Entschädigung beim Tod oder bei einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen. Die Einführung eines allgemeinen Angehörigenschmerzensgeldes (siehe die Diskussion Eschede, Concorde) hatte der Gesetzgeber ausdrücklich abgelehnt. Das Zweite Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002 führte keinen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens trauernder Angehörigen ein. Es blieb somit bei der Rechtsprechung (BGH NJW 1985, 1390; 1971, 1983; OLG Frankfurt NZV 1991, 270; OLG Düsseldorf VersR 1977, 1011; OLG Frankfurt zfs 2004, 452), dass auch bei dem Tod naher Angehöriger eine Auswirkung auf den eigenen Körper bzw. die eigene Gesundheit in einem größeren Umfang erforderlich war (Heß, in: Berz/Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts, 6 F Rn 19 ff.). Nach deutschem Recht erstreckte sich die Haftung nun einmal ausschließlich nur auf den Schaden, der dem unmittelbar Geschädigten entsteht.
Rz. 62
Zur Begründung wurde ausgeführt, nach geltendem Recht sei ein Anspruch für Schäden durch zugefügten seelischen Schmerz nicht gegeben, sofern dieser nicht wiederum Auswirkung der Verletzung des eigenen Körpers oder der eigenen Gesundheit sei (BGHZ 56, 163). Der Schadensersatz sei ausschließlich auf solche Schäden beschränkt, die aus medizinischer Sicht und nach der allgemeinen Verkehrsauffassung auf unmittelbaren Körper- oder Gesundheitsverletzungen beruhen. Die besagte gesetzgeberische Entscheidung ergebe sich aus den §§ 844, 845 BGB, also den Bestimmungen, die bei Tod eines Menschen den Angehörigen Ersatz der Beerdigungskosten, des entgangenen Unterhalts und der entgangenen Dienste gewähren (BGH NJW 1989, 2317).
Rz. 63
Im Übrigen sei die Deliktshaftung auf den Schaden der "unmittelbar" Verletzten beschränkt. Nur wenn der Angehörige an psychopathologischen Ausfällen von einiger Dauer leide, sein Schock auf den Unfalltod eines Angehörigen also eine nachhaltige traumatische Schädigung erreiche, die über das normale Lebensrisiko der menschlichen Teilnahme an den Ereignissen der Umwelt hinausgehe, könne von einer eigenen Verletzung und damit einem Schmerzensgeldanspruch die Rede sein (OLG Hamm NZV 2002, 234).
Rz. 64
Die physische und psychische Beeinträchtigung musste also unverändert medizinisch fassbar sein, sie musste über das normale Maß seelischer Erschütterungen bei solchen schweren Erlebnissen hinausgehen und die Reaktion muss auch nachvollziehbar sein, die Ersatzpflicht beschränkte sich auf die nächsten Angehörigen (vgl. hierzu Heß, in: Berz/Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts, 6 F Rn 19 m.w.N.). Im Übrigen wurde selbst für den empfindlichsten Verlust, den damit verbundenen Schmerz und eine tief empfundene Trauer keine Entschädigung gezahlt. Andere, weit weniger gewichtige Eingriffe, z.B. in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, führten demgegenüber zu weit höheren Schmerzensgeldern.
Rz. 65
Die vom BGH angeführte Begründung aus der Gesetzesentstehung heraus stand bei näherer Betrachtung einer Ausweitung der Ansprüche des nahen Angehörigen eines verun...