Dr. Wolfgang Kürschner, Karl-Hermann Zoll
a) Verletzung des Integritätsinteresses
Rz. 98
Die Verletzung von Schutzpflichten, die dem Integritätsinteresse der anderen Partei dienen. Schon während der Vertragsverhandlungen besteht die Pflicht, sich so zu verhalten, dass Körper, Leben, Eigentum und sonstige Rechtsgüter des anderen Teils nicht verletzt werden. Eine schuldhafte Verletzung dieser Rechtsgüter begründet neben konkurrierenden deliktischen Ansprüchen Schadensersatzansprüche aus culpa in contrahendo.
Rz. 99
Ein unter dem Gesichtspunkt der culpa in contrahendo relevantes Schuldverhältnis wird vor dem möglichen Abschluss eines Vertrages beispielsweise dadurch begründet, dass jemand Verkaufsräume betritt. Grundsätzlich hat der Kaufinteressent, der in das Büro oder in das Ladengeschäft eines Kaufmanns kommt, auf die gleiche Sorgfaltspflicht Anspruch wie der Käufer, der den Vertrag bereits abgeschlossen hat. Auch wenn es sich um eine Ware handelt, die regelmäßig nicht bei der ersten Besichtigung sofort gekauft wird, ist in der Öffnung des Ladengeschäfts eine Aufforderung zur zwanglosen Besichtigung in dem Sinn zu erblicken, dass der Geschäftsinhaber schon in vertragliche Beziehungen zwecks Gewährung einer kostenlosen Besichtigung der Ware und einer Aufklärung über die Kaufbedingungen eintreten will. Der Schutz erstreckt sich in entsprechender Anwendung des § 328 BGB auf Begleitpersonen.
Rz. 100
Weitere Beispiele: Bereits vor Kaufabschluss wird eine Motorjacht übergeben. Auf der Vorführfahrt bzw. Probefahrt beschädigt der Interessent den Wagen. Der Schutz beginnt bei einem Schadensfall im Zusammenhang mit dem Einkauf in einem Warenhaus in dem Moment, in dem sich der Kunde mit dem Ziel eines Vertragsschlusses in die vom Warenhaus beherrschte Sphäre begibt. Er gilt auch für mögliche Kunden, die einen Kundenparkplatz aufsuchen, den der Betreiber des Geschäfts ihnen zur Befriedigung ihrer Kaufabsichten zur Nutzung zur Verfügung stellt.
Rz. 101
Eine Haftung aus Verschulden bei Vertragsschluss besteht dagegen nicht gegenüber solchen Personen, die noch gar nicht die betreffenden Räume betreten haben, sondern vor dem Laden infolge von Glatteis stürzen. Ferner entfällt die Haftung aus culpa in contrahendo gegenüber Personen, die das Büro oder Geschäft offensichtlich nicht mit der Absicht eines Kaufabschlusses betreten, sondern zur Erfüllung eigener Pflichten – wie z.B. ein Briefträger, ein Gerichtsvollzieher oder auch Personen, die mit dem Geschäftsinhaber oder einem seiner Angestellten außerhalb des Kaufgeschäfts liegende Angelegenheiten besprechen wollen.
Rz. 102
Ein Vertrauensverhältnis auf gesetzlicher Grundlage kommt auch bei einem Dienst- und Werkvertrag zum Tragen, sobald die Parteien über den Abschluss des Vertrages verhandeln, z.B. der Bewerber um eine Stellung sich in dem Büro des Unternehmens vorstellt oder der Installateur zur Vorbereitung eines Kostenvoranschlages Untersuchungen im Haus des Kunden anstellt.
Rz. 103
Beim Personenbeförderungsvertrag kommt ebenfalls ein Verschulden bei Vertragsschluss in Betracht, z.B. dann, wenn der Fahrgast die haltende Straßenbahn oder das Fahrzeug besteigen will, der Fahrer jedoch verfrüht abfährt, und es deshalb zu einem Unfall kommt. Zwar kommt grundsätzlich eine Haftung sowohl des Fahrers (aufgrund Verschuldens) als auch des Verkehrsunternehmens (aus Vertrag, Betriebsgefahr sowie Verschulden) in Betracht, wenn ein Fahrgast beim Einsteigen in ein öffentliches Verkehrsmittel durch nachdrängende Fahrgäste zu Fall kommt; dies insbesondere, sofern wegen einer Großveranstaltung mit einem erheblich gesteigerten Passagieraufkommen zu rechnen war; es stellt sich jedoch ohne weiteres noch nicht als haftungsbegründendes, sorgfaltspflichtwidriges Verhalten des Fahrers dar, wenn bei erhöhtem Andrang sämtliche Einstiegstüren gleichzeitig geöffnet werden; Eine grundsätzlich gegebene Haftung des Verkehrsunternehmens (nur) aus Betriebsgefahr kann unter Umständen hinter einem ganz überwiegenden Mitverschulden des zusteigenden Fahrgasts zurücktreten, wenn dieser die Situation an der Haltestelle kennt und – etwa wegen etlicher stark alkoholisierter Jugendlicher – selbst als bedrohlich bzw. sogar als "außer Kontrolle" wahrnimmt, sich dessen ungeachtet aber zum Einstieg in das Verkehrsmittel vor die anderen Wartenden in die "erste Reihe" stellt. Zwar werden an die Eigensicherung des Fahrgasts des öffentlichen Personennahverkehrs hohe Sorgfaltsanforderungen gestellt. Gleichwohl besteht kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass jeder Sturz während der Fahrt auf eine schuldhafte Verletzung der grundsätzlichen Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist. Ein Handwerker ist auch vor Abschluss der Verhandlungen verpflichtet, in Obhut genommene Gegenstände sorgfältig zu verwahren.
Rz. 104
Rechtsfolgen: Der Geschädigte kann gemäß § 249 BGB verlangen, so gestellt zu werden, wie er ohne das schädigende Verhalten des anderen Teils gestanden hätte. § 254 BGB findet Anwendung. Der Schadensersatzanspruch umfasst auch Schmer...