Dr. Wolfgang Kürschner, Karl-Hermann Zoll
Rz. 106
Ein Vertrag kommt nicht oder nicht wirksam oder nicht erwartungsgerecht zustande, weil ein Vertragspartner Rücksichtnahmepflichten, die aus dem vertragsähnlichen Vertrauensverhältnis erwachsen sind, verletzt. Hierzu zählen die Fälle des Abbruchs von Vertragsverhandlungen ohne triftigen Grund, nachdem ein Teil in zurechenbarer Weise Vertrauen auf das Zustandekommen des Vertrags geweckt hatte. Bei wirksamen, aber inhaltlich nachteiligen Verträgen können Ansprüche aus culpa in contrahendo bestehen, wenn der Vertrag durch eine pflichtwidrige Einwirkung auf die Willensbildung des Geschädigten zustande gekommen ist. Häufig geht es darum, dass der Schädiger dem Geschädigten unrichtige oder unvollständige Informationen erteilt hat. Beispiel: Bestehen verschiedene Optionen mit unterschiedlichen Erfolgschancen, muss ein Fachunternehmen den Auftraggeber bei den vorvertraglichen Verhandlungen darauf hinweisen und darf typische Risiken einer bestimmten Lösung nicht verschweigen (hier: Anodenschutzanlage in Heizöltank zur Eindämmung von Korrosion). Zu Gunsten des Auftraggebers wird vermutet, dass er sich beratungsgemäß verhalten hätte.
Rz. 107
Es stellt eine vorvertragliche Pflichtverletzung dar, wenn der Veräußerer eines Fahrzeuges den Käufer nicht über die Eigentumsverhältnisse aufklärt. Denn der Umstand, dass das Fahrzeug seitens des Veräußerers zuvor von einem nicht im Fahrzeugbrief eingetragenen "fliegenden Zwischenhändler" erworben wurde, ist für den Käufer von wesentlicher Bedeutung, so dass er dessen Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwarten darf. Denn ohne einen entsprechenden Hinweis darf der Käufer davon ausgehen, dass der Veräußerer das Fahrzeug von der als letztem Halter in den Fahrzeugbrief eingetragenen Person erworben hat. Beim Erwerb von einem "fliegenden Zwischenhändler" liegt dagegen der Verdacht nahe, dass es zu Manipulationen am Fahrzeug oder sonstigen Unregelmäßigkeiten gekommen ist. Der Kausalität der Pflichtverletzung des Veräußerers für den Schaden des Käufers steht die Rückgabe des Fahrzeuges an den ursprünglichen Eigentümer nicht entgegen. Denn eine Ersatzpflicht des Schädigers besteht auch dann, wenn für ein schadenverursachendes oder -vertiefendes Verhalten des Geschädigten nach dem haftungsbegründenden Ereignis ein rechtfertigender Anlass bestand oder es durch ein haftungsbegründendes Ereignis herausgefordert wurde und eine nicht ungewöhnliche oder unangemessene Reaktion auf dieses Ereignis darstellt. Stellt der Vermittler einer Lebensversicherung unzutreffend dar, dass es sich bei den in den Antrag aufgenommenen Auszahlungsbeträgen, anders als in den Versicherungsbedingungen vorgesehen, um feste Zahlungszusagen handelt, ist eine Aufklärungspflichtverletzung gegeben. Ein Versicherer, der selbstständige Vermittler einsetzt, um Kunden anzuwerben und mit diesen die persönlichen Vertragsverhandlungen bis zur Unterschriftsreife zu führen, muss sich deren Verhalten bei der Anbahnung eines Versicherungsverhältnisses gemäß § 278 BGB zurechnen lassen.
Rz. 108
Als Rechtsfolge kommt hier auch das Recht auf Rückgängigmachen oder auf Anpassung des Vertrags in Betracht. Im Übrigen ist in der Regel der Vertrauensschaden, also das negative Interesse zu ersetzen. Der Ersatz des Erfüllungsinteresses kommt als Folge einer Pflichtverletzung bei Vertragsschluss nur ausnahmsweise in Betracht und setzt die Feststellung voraus, dass die aufklärungspflichtige Partei – wäre der verschwiegene Umstand während der Vertragsverhandlungen bekannt geworden – den Vertrag zu den von dem Geschädigten nunmehr erstrebten Bedingungen geschlossen hätte. Von einer entsprechenden Bereitschaft der aufklärungspflichtigen Partei kann nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Sie wäre bei erfolgter Aufklärung nämlich nicht gehindert gewesen, mit Rücksicht auf die dann ungünstigeren Vertragsbedingungen von einem Vertragsschluss gänzlich abzusehen. Der Geschädigte, der Ersatz des Erfüllungsinteresses erstrebt, muss deshalb darlegen und beweisen, dass die Gegenseite den Vertrag ohne die Aufklärungspflichtverletzung zu den für sie ungünstigeren Bedingungen geschlossen hätte.