Stephan Kohlhaas, Phillip Hartmann
Rz. 31
Hat der Anwalt anhand des aufgeklärten Sachverhalts die Rechtslage geprüft, folgt die Beratung des Mandanten wegen der zur Rechtsverfolgung erforderlichen und zweckmäßigen Schritte.
Der Anwalt darf rechtliche Wertungen des Mandanten nicht ungeprüft übernehmen. Nach der Rechtsprechung scheidet insoweit ein Mitverschulden des Mandanten aus.
Rechtsprechung und herrschende Auffassung in der Literatur ändern sich gelegentlich. Aus diesem Grunde ist der Anwalt verpflichtet, anhand von Fachliteratur und veröffentlichten (auch ganz aktuellen) Entscheidungen die Entwicklung der herrschenden Meinung und der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu verfolgen, denn er hat seine Tätigkeit für den Mandanten in erster Linie an der höchstrichterlichen Rechtsprechung auszurichten. Diese hat richtungsweisende Bedeutung für Entwicklung und Anwendung des Rechts. Der BGH statuiert deshalb schon seit jeher die Verpflichtung, sich über die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht nur anhand der amtlichen Sammlungen, sondern auch der einschlägigen Fachzeitschriften und Kommentare zu unterrichten. Spezialzeitschriften (Agrarrecht) sind vom Anwalt heranzuziehen, wenn sich ein Rechtsgebiet in der Entwicklung befindet und weitere höchstrichterliche Rechtsprechung zu erwarten ist. Bleibt auch hiernach die Rechtslage zweifelhaft, muss sich der bevollmächtigte Anwalt ausnahmslos an den Grundsatz der "Wahl des sicheren Weges" halten, z.B. im Rahmen gestaltender Beratung den Mandanten unmissverständlich auf die Risiken hinweisen, die mit dem Fehlen einer höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung verbunden sind. Damit erfüllt er im Regelfall das von der Rechtsprechung zur Anwaltshaftung geforderte Ziel der anwaltlichen Rechtsberatung, dem Mandanten eine eigenverantwortliche, sachgerechte (Grund-) Entscheidung in seiner Rechtsangelegenheit zu ermöglichen.
Rz. 32
Der Anwalt muss vor dem Hintergrund des Erfordernisses der umfassenden Rechtskenntnis nicht nur bereits erlassene Urteile daraufhin prüfen, ob sie im Lichte neuerer Tendenzen in Rechtsprechung und Literatur noch Bestand haben. Zum Teil wird – auch insoweit bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen – vom Anwalt erwartet, dass er Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorhersieht.
Auf den Bestand höchstrichterlicher Rechtsprechung kann der Anwalt aber vertrauen.
Der BGH führt hierzu aus:
Zitat
„Bei der Beurteilung der für das Mandat einschlägigen Rechtslage hat sich ein Anwalt in erster Linie an der höchstrichterlichen Rechtsprechung auszurichten, auf deren Fortbestand er in der Regel vertrauen darf. Er braucht in solchen Fällen entgegenstehende Rechtsprechung von Instanzgerichten und abweichende Stimmen in der Literatur nicht zu berücksichtigen, es sei denn
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es gibt keine gesicherte Rechtsprechung, |
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ein neues Gesetz, zu dem es noch keine Rechtsprechung gibt, ist in Kraft getreten oder |
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es gibt Hinweise eines obersten Gerichts auf eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung.“ |
Hieraus abgeleitet folgt, dass immer dann strengere Anforderungen zu stellen sind, wenn ein Rechtsgebiet ersichtlich in der Entwicklung begriffen und (weitere) höchstrichterliche Rechtsprechung zu erwarten ist. Dann muss ein Anwalt, der eine Angelegenheit aus diesem Bereich zu bearbeiten hat, auch Spezialzeitschriften in angemessener Zeit durchsehen. Ihm muss dabei freilich insgesamt ein "realistischer Toleranzrahmen" zugebilligt werden.
Rz. 33
Der herrschenden Meinung und der höchstrichterlichen Rechtsprechung darf der Anwalt sich nicht kritiklos anschließen. Er muss sich vielmehr nach sorgfältiger juristischer Prüfung selbst eine Meinung bilden und zu diesem Zwecke zumindest die in der amtlichen Sammlung und in den für seine übliche Tätigkeit wesentlichen Zeitschriften veröffentlichte höchstrichterliche Rechtsprechung und die üblichen Kommentare beiziehen.
Rz. 34
Dem Anwalt steht – der Rechtsprechung folgend – nur ein begrenzter zeitlicher Spielraum für die Sichtung der hiernach maßgeblichen Erkenntnisquellen zur Verfügung. Grundsätzlich billigt ihm die Rechtsprechung in der Anwaltshaftung eine Karenzzeit von zwei bis vier Wochen, in der Steuerberaterhaftung vier bis sechs Wochen nach dem Erscheinungsdatum höchstrichterlicher Entscheidungen zu. Laut OLG Stuttgart ist dieser Zeitraum deutlich – auf (mindestens) drei Monate – auszudehnen, falls es um obergerichtliche oder sonst relevante Rechtsprechung geht, die nicht im Bundessteuerblatt (BStBl) oder dem Deutschen Steuerrecht (DStR) veröffentlicht ist. Inwieweit diese Entscheidung auf Steuerberatung/steuerrechtliche Rechtsprechung beschränkt ist, geht aus dem Urteil des OLG zur Haftung eines Steuerberaters nicht klar hervor.
Bis dato nicht entschieden ist die Fragestellung, ob und ggf. inwieweit die Gerichte künftig strengere Maßstäbe betreffend die Karenzzeiten ansetzen werden, diese nämlich deutlich verkürzen, wenn in Betracht kommende Urt...