Spezialisierte Rechtsanwälte müssen neueste BGH-Rechtsprechung kennen
Nach einer Entscheidung des OLG Jena haben auf ein bestimmtes Rechtsgebiet spezialisierte Rechtsanwälte, die mit einer Vielzahl ähnlich gelagerter Verfahren mandatiert sind, die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung in besonderem Maße zeitnah zur Kenntnis zu nehmen und bei der Beratung der Mandanten zu berücksichtigen. Sie haben die Pflicht, sich über die online verfügbare Entscheidungsdatenbank des BGH über die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zu informieren.
Rechtsschutzversicherer verklagt Rechtsanwälte auf Kostenersatz
Klägerin in dem vom OLG Jena entschiedenen Fall war ein Rechtsschutzversicherer, der die beklagten Rechtsanwälte aus übergegangenem Recht ihrer Versicherungsnehmer auf Ersatz eines Vergütungsschadens in Anspruch nahm. Die Klage hatte sowohl in 1. also in 2. Instanz im wesentlichen Erfolg. Nach Auffassung der Gerichte hatten die Beklagten ihre Pflichten aus dem Anwaltsvertrag verletzt, weil sie ihre Mandanten vor der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung nicht über den Wegfall der Erfolgsaussichten ihrer Klage infolge einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung beraten hatten.
Spezialkanzlei für Kapitalanlagerecht
Die beklagten, auf Kapitalanlagerecht spezialisierten Rechtsanwälte hatten mehrere Kapitalanleger außergerichtlich und gerichtlich wegen Schadenersatzansprüchen auf Grundlage diverser Kapitalanlagen, im konkreten Fall einer KG-Beteiligung vertreten. Zum Zweck der Hemmung der Verjährung hatten die Anwälte zunächst Mustergüteanträge bei einer Gütestelle und im Anschluss daran Klage auf Schadenersatz eingereicht.
Änderung der BGH-Rechtsprechung zur Hemmung der Verjährung
Nach Einreichung der Klage hatte der BGH seine Rechtsprechung zur Hemmungswirkung von Güteanträgen geändert und insbesondere die Anforderungen an die Individualisierung der mit einem Güteantrag geltend gemachten Ansprüche deutlich verschärft. Nach der geänderten Rechtsprechung waren die Schadensersatzansprüche der Anleger bereits vor Klageerhebung verjährt. Dennoch hatten die Beklagten das gerichtliche Verfahren auf Schadenersatz fortgeführt mit der absehbaren Folge der Abweisung der Klage wegen Verjährung.
Allgemeine anwaltliche Beratungspflichten
In seiner Entscheidung betonte das OLG, dass ein Rechtsanwalt grundsätzlich zur umfassenden und möglichst erschöpfenden Beratung seines Auftraggebers verpflichtet ist (BGH, Urteil v. 16.9.2021, IXZR 165/19). Die anwaltliche Beratung müsse den Mandanten in die Lage versetzen, eigenverantwortliche, sachgerechte Entscheidungen und Weichenstellungen in seiner Rechtsangelegenheit unter Abwägung der Chancen und Risiken zu treffen. Das OLG stellte klar, dass ein Anwalt grundsätzlich nicht gehindert ist, im Auftrag des Mandanten auch einen aussichtslosen Rechtsstreit zu führen. Jedoch müsse er seinen Mandanten zuvor über die Aussichtslosigkeit informiert haben.
Hinweispflicht auf Verschlechterung der Erfolgsaussichten
Die Beratungspflicht gegenüber den Mandanten trifft den Rechtsanwalt nach der Entscheidung des OLG nicht nur bei Beginn des Mandats, sondern besteht während der Durchführung des Mandats zu jedem Zeitpunkt fort. Dies bedeute, dass im Fall einer Veränderung der rechtlichen oder tatsächlichen Ausgangslage im Laufe eines Verfahrens der Rechtsanwalt seinen Mandanten über eine damit verbundene Verschlechterung der Erfolgsaussichten aufklären müsse. Dies komme insbesondere dann in Betracht, wenn eine zu Beginn des Rechtsstreits noch ungeklärte Rechtsfrage in einem anderen Verfahren höchstrichterlich geklärt wird und danach das Rechtsschutzbegehren des Mandanten keine Aussicht mehr auf Erfolg hat.
Beratungspflichten verletzt
Nach Auffassung des OLG waren die beklagten Rechtsanwälte nach diesen Grundsätzen verpflichtet, ihre Mandanten vor der mündlichen Verhandlung beim LG Gera am 11.7.2016 zur Rücknahme ihrer bereits im Jahr 2013 eingereichten Klage zu raten, weil die Klage infolge eines Urteils des BGH vom 18.6.2015 aussichtslos geworden war. In dieser Entscheidung hatte der BGH die Anforderungen an die Individualisierung des in einem Güteantrag geltend gemachten Anspruchs dahin gehend verschärft, dass in Anlageberatungsfällen der Güteantrag die konkrete Kapitalanlage bezeichnen, die Zeichnungssumme und den ungefähren Beratungszeitraum angeben sowie den Hergang der Beratung im Groben umreißen muss. Andernfalls habe der Güteantrag keine die Verjährung hemmende Wirkung (BGH, Urteil v. 18.6.2015, III ZR 198/14).
Klageansprüche eindeutig verjährt
Diesen Anforderungen wurde der von den beklagten Anwälten vor Klageeinreichung gestellte Güteantrag mangels Individualisierung der Ansprüche nicht gerecht, sodass der Güteantrag nach der Bewertung des OLG die Verjährung nicht hemmen konnte. Die mit der Klage geltend gemachten Schadensersatzansprüche seien deshalb bereits bei Klageeinreichung unzweifelhaft verjährt gewesen. Dies habe der BGH für einen dem Güteantrag der Beklagten vergleichbaren Güteantrag im Januar 2016 nochmals ausdrücklich bestätigt (BGH, Beschluss v. 28.1.2016, III ZB 88/15). Die Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahr 2015 sei weiträumig vor dem angesetzten gerichtlichen Verhandlungstermin bereits im Februar 2016 auf der Homepage des BGH veröffentlicht worden und damit den Beklagten problemlos zugänglich gewesen.
Spezialisierte Anwälte müssen die neueste Rechtsprechung kennen
Das OLG betonte, dass ein auf das Kapitalanlagerecht spezialisierter Anwalt die Online-Entscheidungsdatenbank des BGH ständig auf die für seine Rechtsgebiete relevanten Leitsatzentscheidungen sichten müsse. Auf Kapitalanlagerecht spezialisierte Rechtsanwälte, die – wie die Beklagten – für von ihnen vertretene Anleger massenhaft Güteanträge zur Hemmung der Verjährung gestellt hatten und bundesweit entsprechende Klageverfahren betrieben, hätten die Pflicht, die Rechtsprechung zu Güteanträgen in besonderem Maße zu verfolgen. Die Änderung der Rechtsprechung zu den Grundsätzen der Verjährungshemmung durch Güteanträge müsse ein auf dem Spezialgebiet des Kapitalanlagerechts tätiger Rechtsanwalt zeitnah zur Kenntnis nehmen.
Regressklage weitgehend erfolgreich
Damit war die Klage des Rechtsschutzversicherers gegen die Rechtsanwälte auf Erstattung der an ihre Versicherungsnehmer verauslagten Kosten – bis auf einen durch einen zwischenzeitlich erklärten Verzicht erledigten Teilbetrag – im Ergebnis weitgehend erfolgreich.
(OLG Jena, Urteil v. 26.1.2024, 9 U 364/18)
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