Als ob Justizbedienstete, Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Prozessbeteiligte nicht ohnehin schon durch die besondere Situation vor Gericht einer erhöhten Stressbelastung ausgesetzt wären. Beim AG Dortmund kommt seit vielen Monaten das tägliche Schreien eines Mannes vor dem Gerichtsgebäude hinzu.
Platzverweis wegen unzumutbarer Lärmbelästigung
Die Nerven einiger Mitarbeiter des AG Dortmund liegen blank. Das tägliche Geschrei eines Passanten vor dem Gerichtsgebäude ist der Konzentration nicht gerade förderlich und kann auch laufende Gerichtsverhandlungen erheblich stören. Der Schreihals vor dem Gericht schimpft lautstark auf die Justiz und alle staatlichen Behörden. Nach mehreren Beschwerden genervter Personen gegenüber dem Ordnungsamt der Stadt Dortmund entschloss sich die Behörde zum Einschreiten, zunächst allerdings mit nur wenig Erfolg. Die verbalen Versuche der Ordnungshüter, den Mann von seinem Schreien vor dem Gericht abzubringen sowie ein erteilter Platzverweis ließen den Schreihals kalt.
Ingewahrsamnahme wegen permanenter Ordnungswidrigkeit
Nachdem der Schreier sämtliche Ermahnungen und Maßnahmen ignorierte, nahm die Ordnungsbehörde den Mann kurzerhand in Gewahrsam. Begründung: Das Geschrei sei eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 117 Abs. 1 OWiG. Nach dieser Vorschrift handelt ordnungswidrig, wer ohne sachlichen Grund übermäßigen Lärm verursacht, der geeignet ist, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen.
Freiheitsentziehende Maßnahmen nur unter engen Voraussetzungen
Nach der in NRW geltenden Vorschrift des § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, wenn dies unerlässlich ist, um eine unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.
Ingewahrsamnahme setzt erhebliche Rechtsbeeinträchtigung voraus
Das um eine richterliche Anordnung der Fortdauer des Gewahrsams ersuchte AG lehnte eine Fortdauer des Gewahrsams ab. Darüber hinaus stellte das Gericht fest, dass die Ingewahrsamnahme von Anfang an rechtswidrig war. Der zuständige Amtsrichter hatte bereits Zweifel an der Verwirklichung des Tatbestandes einer erheblichen Lärmbelästigung gemäß § 117 OWiG. Nach Auffassung des AG ist die von der betroffenen Person verursachte Lärmbelästigung jedenfalls nicht so schwerwiegend, dass dies eine mit einem Entzug der Freiheit verbundene Ingewahrsamnahme rechtfertigen könnte.
Kurzzeitiges Fensterschließen während Gerichtsverhandlung ist zumutbar
Nach der Bewertung des Amtsrichters war die Ingewahrsamnahme unverhältnismäßig. Der Amtsrichter wies darauf hin, dass ihm der „Schreier seit Jahren bekannt“ sei und hierdurch schon einige Sitzungstermine gestört worden seien. Der Zeitraum des täglichen Schreiens sei aber von überschaubarer Dauer und halte in der Regel nur einige Minuten an. Nach Schließen der Fenster könnten Gerichtstermine trotz des Schreiens problemlos fortgeführt werden. Ein kurzzeitiges Schließen der Fenster während der Gerichtssitzungen sei ein verhältnismäßig geringer Aufwand und rechtfertige keine einschneidenden freiheitsentziehenden Maßnahmen.
Grundrecht der Meinungsfreiheit schützt auch Uneinsichtige
Nach der Bewertung des Gerichts ist das laute Schreien des Betroffenen auch von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt. Durch sein Geschrei bringe der Mann seine kritische Haltung gegenüber staatlichen Organisationen zum Ausdruck und kritisiere auf diese Weise - ob begründet oder unbegründet - den Umgang der Gerichte und Behörden mit seinen Anliegen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit erlaube es ihm auch, gegenüber Ordnungshütern uneinsichtig zu sein. Er wolle durch sein Verhalten Anstoß erregen und Kopfschütteln auslösen. Dies sei - jedenfalls in dem bisherigen Umfang - sein gutes Recht.
Schreien vor dem AG Dortmund geht weiter
Nach einer Online-Meldung des WDR vom 18.10.2024 macht der Betroffene weiter kräftig von seinem Recht auf Schreien Gebrauch und posaunt jeden Tag einige Minuten seinen Zorn auf die Justiz und auf staatliche Behörden unüberhörbar vor dem Dortmunder Gerichtsgebäude heraus
(AG Dortmund, Beschluss v. 19.6.2024, 900 XIV(L) 119/24)