Keine Vorabschätzungspflicht bei anwaltlichen Stundensätzen
In einer Leitsatz-Entscheidung hat der BGH die bei Rechtsanwälten in der Praxis immer beliebter werdenden Vereinbarungen von Stundensatzhonoraren auf der Grundlage vorformulierter Vertragsklauseln für grundsätzlich zulässig erklärt. In Abweichung von einer Entscheidung des EuGH ist nach dem Urteil des BGH keine Vorabschätzung zum möglichen Gesamtvolumen des Honorars erforderlich. Ebenso wenig hält der BGH die Erteilung von Zwischenabrechnungen für obligatorisch. Eine Kombination von Stundenhonorar und Abrechnung nach dem RVG sieht der BGH allerdings kritisch.
Stundensatzvereinbarung kombiniert mit RVG-Elementen
Gegenstand des vom BGH entschiedenen Falls war die Klage einer Rechtsanwaltskanzlei auf Zahlung des vereinbarten Anwaltshonorars für verschiedene Mandate im Zusammenhang mit einer erb- und familienrechtlichen Auseinandersetzung. Für die jeweiligen Mandate schlossen die Parteien vorformulierte Vergütungsvereinbarungen, die für die anwaltliche Tätigkeit u.a. ein Stundenhonorar von 245 EUR netto und für Streitwerte über 250.000 EUR eine nach 50.000 EUR-Schritten gestaffelte Erhöhung des Stundenhonorars vorsahen. Daneben wurden eine Einigungsgebühr, eine nach der Höhe des Gesamthonorars variable Auslagenpauschale und eine Erfolgsgebühr vereinbart.
Formularmäßige Verträge mit Stundenhonorar sind zulässig
Die Beklagte beglich die in Rechnung gestellten Honorare nur teilweise. Streitig blieb zwischen den Parteien ein Betrag von ca. 130.000 EUR. Nach unterschiedlichen Instanzentscheidungen stellte der BGH klar, dass die Vereinbarung eines Stundenhonorars zu einem Stundensatz von 245 EUR pro Stunde durch formularmäßig vorbereitete Verträge des Anwalts grundsätzlich zulässig ist.
Stundenhonorarvereinbarung unterliegt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle
Die seitens des Anwalts vorformulierten Entgeltabreden unterliegen nach der Entscheidung des BGH der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle, insbesondere einer Prüfung am Maßstab des Transparenzgebots gemäß § 307 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 BGB. Schon früher hatte der BGH entschieden, dass eine Zeithonorarabrede, wonach der Rechtsanwalt seine Tätigkeit nach Stundensätzen abrechnet, grundsätzlich wirksam ist. Diese Rechtsprechung gilt auch für Honorarvereinbarungen mit Verbrauchern (BGH, Urteil v. 13.2.2020, IXZR 140/19).
Detaillierte Darlegungspflicht des Anwalts für erbrachte Leistungen
Diese Rechtsprechung benachteiligt nach Auffassung des Senats Verbraucher nicht in unangemessener Weise. Zwar sei es für Verbraucher schwer, eine Stundenhonorarabrechnung auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Die Überprüfbarkeit werde aber durch die nach der Rechtsprechung bestehende Rechtspflicht des Anwalts, die während der abgerechneten Zeitintervalle erbrachten Leistungen sehr exakt und nachprüfbar darzulegen (z.B. Dauer und Gesprächspartner von Telefonaten, Art und Dauer von Recherchen), in ausreichender Weise erreicht (BGH, Urteil v. 4.2.2010, IXZR 18/09).
Vorabschätzung des voraussichtlichen Gesamthonorars nicht erforderlich
Mit dieser Argumentation verneinte der BGH auch eine grundsätzliche Verpflichtung des Anwalts, im Fall der Vereinbarung eines Stundenhonorars über die voraussichtliche Größenordnung des möglichen Gesamthonorars vorab eine Einschätzung abzugeben. Eine solche Vorabschätzung sei bei vielen Mandaten im Voraus nicht möglich, da der Aufwand im Hinblick auf das noch nicht bekannte Verhalten der Gegenseite sowie hinsichtlich weiterer Entwicklungen bei Beginn des Mandats häufig nicht einzuschätzen sei. Auch die Erstellung von Zwischenabrechnungen während des Mandats ist nach der Entscheidung des Senats nicht zwingend. Zeithonorarvereinbarungen ohne diese Elemente seien daher nicht per se unwirksam.
Stundenhonorar darf nicht intransparent gestaltet sein
Unwirksam im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung des § 307 BGB ist nach der Entscheidung des BGH eine Zeithonorarvereinbarung allerdings dann, wenn sie für den Verbraucher intransparent wird und diesen dadurch in unangemessener Weise benachteiligt. Eine solche Intransparenz entstehe dann, wenn die Honorarvereinbarung dem Rechtsanwalt einen rechtlichen Gestaltungsspielraum verschafft, dem die Möglichkeit einer treuwidrigen und missbräuchlichen Abrechnung innewohnt.
Gesamtvereinbarung ist intransparent
Im konkreten Fall folgt eine mangelnde Transparenz nach Auffassung des BGH aus der Kombination unterschiedlicher Abrechnungsmodalitäten. Der Senat beanstandet, dass die Bestimmungen zur streitwertabhängigen Erhöhung der Stundensätze, zur Auslagenpauschale, zur Einigungs- und zur Befriedungsgebühr sowie die verwendete Streit- und Anerkenntnisklausel in ihrer Gesamtheit und Kombination für den Durchschnittsverbraucher dermaßen undurchschaubar seien, dass der Mandant später nicht in der Lage sei, die Angemessenheit einzelner Abrechnungen oder der Endabrechnung zu beurteilen. Die komplizierte Kombination aus Stundensatz- und RVG-Honoraren sei im Ergebnis intransparent.
Gefahr des Rechtsmissbrauchs
Die Variabilität der Abrechnung nach Zeiteinheiten und/oder Gegenstandswert eröffnet nach der Entscheidung des Senats für den Anwalt die Möglichkeit, die Endabrechnung rechtsmissbräuchlich zum Nachteil des Verbrauchers zu gestalten. Die nach Streitwerten gestaffelte Erhöhungsklausel könne zu Stundensätzen führen, die mit dem das bürgerliche Recht prägenden Grundsatz der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung (BGH, Urteil v. 12.6.2001, XI ZR 274/00) nicht in Einklang zu bringen seien.
Auslagenpauschale ist verstecktes Honorar
Der Senat bemängelte explizit die Anknüpfung der Auslagenpauschale an die Höhe des Zeithonorars. Dies habe praktisch den Effekt einer Erhöhung des Stundensatzes um pauschal 5 %, ohne dass nachvollziehbar sei, aus welchem Grund pro Arbeitsstunde Auslagen in Höhe von 5 % des vereinbarten Honorars anfallen sollten.
Vergütungsvereinbarung dient einseitig dem Interesse des Verwenders
Die Gesamtheit der getroffenen Vereinbarungen dient nach der Entscheidung des BGH entgegen Treu und Glauben dem einseitigen Vergütungsinteresse des Klägers und führt deshalb zur Unwirksamkeit der Preisabrede im Ganzen. Da die verwendeten Vergütungsklauseln in einem untrennbaren inhaltlichen Zusammenhang stünden, sei es nicht möglich, einzelne unwirksame Klauseln aus der Gesamtvereinbarung herauszutreten.
Rechtsanwalt hat Vergütungsanspruch nach RVG
Allerdings führt die Unwirksamkeit der Honorarvereinbarungen nicht zur Unwirksamkeit der einzelnen Mandatsverträge. Der BGH gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die vom Kläger erbrachten anwaltlichen Tätigkeiten einen Anspruch des Klägers auf die gesetzlich vorgesehene Vergütung nach dem RVG auslösen. Welche Tätigkeiten im Einzelnen nach dem RVG abzurechnen sind, hatten die Vorinstanzen noch nicht festgestellt, sodass der Senat den Rechtsstreit insoweit zur weiteren Sachaufklärung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen hat.
Vorinstanz muss mögliche Vorteile des Anwalts bei RVG-Abrechnung kappen
In seinem Urteil weist der BGH ausdrücklich darauf hin, dass der Verwender aus der Unwirksamkeit der von ihm verwandten Allgemeinen Geschäftsbedingungen keine Vorteile ziehen darf (BGH, Urteil v. 12.5.2016, VII ZR 171/15). Errechne sich aus dem RVG im Einzelfall eine höhere Vergütung als nach den Honorarvereinbarungen, so sei diese entsprechend zu kappen. Praktisch dürfte nach dem Urteil des BGH die Vergütung des Klägers erheblich geringer ausfallen als bisher von ihm in Rechnung gestellt.
(BGH, Urteil v. 12.9.2024, IX ZR 65/23)
Hintergrund:
Mit der aktuellen Entscheidung hat der BGH die Optionen der Anwaltschaft zur Vereinbarung von Zeithonoraren weit gefasst. Der Senat hat im Ergebnis die Anforderungen des EuGH an die Vereinbarung von Zeithonoraren mit Verbrauchern gelockert.
Transparenzvorgaben des EuGH
Der EuGH hatte entschieden, dass eine Zeithonorarklausel zwischen einem Rechtsanwalt und einem Verbraucher dem Erfordernis der Klarheit und Verständlichkeit genügen müsse. Nach der EU-Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, sei der Verbraucher in die Lage zu versetzen, seine Entscheidung über den Abschluss eines Vertrages in voller Kenntnis der wirtschaftlichen Folgen des Vertragsabschlusses zu treffen. Hierzu gehöre in der Regel, dass der Verbraucher eine Information über den voraussichtlichen Umfang der Tätigkeit in Form einer Vorabschätzung der Gesamtkosten erhalte. Außerdem habe der Verbraucher regelmäßig ein Recht auf Zwischenabrechnungen, um so die entstehenden Kosten stets überprüfbar im Griff zu behalten (EuGH, Urteil v. 12.1.2023, C-395/21).
BGH sieht keinen Widerspruch zum EuGH-Urteil
Der BGH ist in seinem Urteil auf diese Entscheidung des EuGH eingegangen. Aus der Entscheidung des EuGH folgt nach Auffassung des Senats nicht, dass formularmäßig getroffene Zeithonorarvereinbarungen von Rechtsanwälten, die keine Abschätzung der Gesamtkosten enthalten, automatisch unwirksam oder nichtig sind. Der EuGH selbst habe in seinem Urteil eingeräumt, dass einem Rechtsanwalt infolge der Eigenart der von ihm zu erbringenden Rechtsdienstleistungen eine Vorabschätzung des Gesamtaufwands bei Vertragsschluss häufig nur schwer oder gar nicht möglich ist. Auch wenn der Rechtsanwalt keine Angaben zum voraussichtlichen Gesamthonorar macht und er nicht die Verpflichtung zur Erteilung von Zwischenabrechnungen eingehe, könne eine Stundenhonorarabrede daher im Grundsatz wirksam sein.
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