Rz. 92
Das Berufungsurteil hielt im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird zum Teil bei Auffahrunfällen auf der Autobahn bereits ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Auffahrenden verneint und – in der Regel – eine hälftige Schadensteilung angenommen, wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat, aber streitig und nicht aufklärbar ist, ob die Fahrspur unmittelbar vor dem Anstoß gewechselt worden ist und sich dies unfallursächlich ausgewirkt hat. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug nur dann das typische Gepräge eines Auffahrunfalls trage, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf zu schnelles Fahren, mangelnde Aufmerksamkeit und/oder einen unzureichenden Sicherheitsabstand des Hintermannes zulasse, wenn feststehe, dass sich das vorausfahrende Fahrzeug schon "eine gewisse Zeit" vor dem nachfolgenden Pkw befunden und diesem die Möglichkeit gegeben habe, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen.
Rz. 93
Ein anderer Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung vertritt die Auffassung, dass nur die seitens des Auffahrenden bewiesene ernsthafte Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt sei, den Anscheinsbeweis erschüttern könne. Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten mit der Folge, dass es nunmehr Sache des Vorausfahrenden sei, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf im Sinne einer beweisrechtlichen "Vorleistung" auszuschließen. Vielmehr müssen sich nach dieser Ansicht aus den unstreitigen oder bewiesenen Umständen zumindest konkrete Anhaltspunkte und Indizien für den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Fahrspurwechsel und dem Auffahrunfall ergeben, um den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern. Auch nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung greift der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen nur dann nicht zulasten des Auffahrenden ein, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen feststeht oder unstreitig ist, dass der Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden erst wenige Augenblicke vor dem Auffahrunfall erfolgt ist.
Rz. 94
Der erkennende Senat hat in seinem Urt. v. 18.10.1988 – VI ZR 223/87, VersR 1989, 54, 55 an seiner bis dahin ergangenen Rechtsprechung festgehalten, dass bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen kann (vgl. etwa Senatsurt. v. 6.4.1982 – VI ZR 152/80, VersR 1982, 672 und v. 23.6.1987 – VI ZR 188/86, VersR 1987, 1241). Dies setzt allerdings nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststeht (vgl. etwa Senatsurt. v. 19.1.2010 – VI ZR 33/09, VersR 2010, 392 m.w.N.). Hieran fehlte es im Streitfall.
Rz. 95
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte der Widerbeklagte zu 1 nach eigenen Angaben mit dem VW-Bus den vor ihm fahrenden, vom Beklagten zu 1 geführten Opel Astra ca. 300 m vor der Ausfahrt, an der beide Unfallbeteiligten die Autobahn verlassen hatten, überholt und war danach vor diesem auf dessen Fahrspur gewechselt. Nach § 7 Abs. 5 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies setzt u.a. voraus, dass der überholte Kraftfahrer nach dem Wiedereinscheren des ihn überholenden Fahrzeugs in der Lage ist, zu diesem einen ausreichenden Sicherheitsabstand im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 StVO aufzubauen, was im Streitfall offen geblieben war. Ein Anscheinsbeweis spricht hierfür nicht. Steht mithin lediglich fest, dass sich der Auffahrunfall in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Überholvorgang kurz vor der Ausfahrt einer Autobahn ereignet hat, an der beide Verkehrsteilnehmer die Autobahn verlassen haben, liegt eine Verkehrssituation vor, die sich von derjenigen, die den Schluss auf ein Verschulden des Auffahrenden zulässt, grundlegend unterscheidet (vgl. Senatsurt. v. 6.4.1982 – VI ZR 152/80, VersR 1982, 672). Darüber hinaus lag nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ein Schräganstoß vor, bei dem der VW-Bus hinten rechts und der Opel Astra vorne links beschädigt wurde. In einer solchen Situation gilt nicht mehr der Erfahrungssatz, dass der Auffahrende diesen Unfall infolge zu hoher Geschwindigkeit, Unaufmerksamkeit und/oder unzureichendem Sicherheitsabstand verschuldet hat. Mindestens ebenso nahe liegt der Schluss, dass der Überholende zuvor gegen die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO verstoßen und sich im Bereich der Ausfahrt in einem so geringen Abstand vor das überholte Fahrzeug gesetzt hat, dass der Sicherheitsabstand vom Überholten nicht mehr rechtzeitig vergröß...