Rz. 534

Die Revision hatte Erfolg. Sie führte zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hatte. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen rechtfertigten seine Annahme, die Beklagte zu 1 habe den Unfall schuldhaft mitverursacht, nicht.

 

Rz. 535

Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden. Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hielt die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht stand.

 

Rz. 536

Das Berufungsgericht war allerdings im Ergebnis zu Recht von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs gegen § 10 S. 1 StVO ausgegangen. Nach § 10 S. 1 StVO hat derjenige, der von einem anderen Straßenteil – hier aus einer Parkbucht – auf die Fahrbahn einfährt, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand an- und in die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang. Auf diesen Vorrang gegenüber dem einfahrenden Verkehr dürfen die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge vertrauen. Der Vorrang gilt grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn. Der Einfahrende hat sich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht. Auch das Befahren des linken Fahrstreifens durch den am fließenden Verkehr teilnehmenden Fahrzeugführer beseitigt nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern. Der Einfahrende kann nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt. Vielmehr muss er stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen.

 

Rz. 537

Das Berufungsgericht hatte festgestellt, dass der Führer des klägerischen Fahrzeugs im Begriff war, aus der Parkbucht am rechten Straßenrand auszufahren und sich das Fahrzeug in einer Vorwärtsbewegung befand, als es mit dem Beklagtenfahrzeug zusammenstieß. Der Führer des Klägerfahrzeugs hätte, als sich das Beklagtenfahrzeug für ihn sichtbar näherte, aufgrund des Vorrangs des Beklagtenfahrzeugs nicht weiter in den rechten Fahrstreifen einfahren dürfen. Da bereits aufgrund der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs gegen § 10 S. 1 StVO auszugehen war, konnte dahinstehen, ob – wovon das Berufungsgericht ausgegangen war – ein solcher auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises zu bejahen wäre.

 

Rz. 538

Die Annahme des Berufungsgerichts, es liege eine schuldhafte Verletzung des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO durch die Beklagte zu 1 vor, war jedoch rechtsfehlerhaft, da § 7 Abs. 5 S. 1 StVO nur dem Schutz des fließenden Verkehrs dient.

 

Rz. 539

Nach § 7 Abs. 5 S. 1 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer Verkehrsteilnehmer" ist an sich grundsätzlich jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Im Rahmen des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO ist "anderer Verkehrsteilnehmer" aber nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende. Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO, aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck.

 

Rz. 540

Bereits die Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO spricht für eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO auf den fließenden Verkehr vor einer Gefährdung durch den Fahrstreifenwechsler. In der Begründung zu § 7 StVO in der Fassung vom 16.11.1970 (VkBl 1970, 735, 805) heißt es, die Vorschrift betreffe lediglich den Fahrverkehr, wie sich aus ihrer Überschrift ergebe.

 

Rz. 541

Eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO auf Verkehrsteilnehmer des fließenden Verkehrs ergibt sich auch aus der systematischen Stellung des § 7 Abs. 5 StVO nach den Absätzen 1 bis 4 des § 7 StVO und dem Sinn und Zweck des § 7 StVO als Ausnahmevorschrift zum Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Abs. 1 bis 4 StVO enthalten Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung und damit Vorschriften fü...

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