Dr. Heribert Heckschen, Dr. Christoph Löffler
Rz. 2034
Die erste Europäische Gesellschaft (SE) wurde am 12.10.2004 in Österreich in das Firmenbuch (österreichisches Pendant zum deutschen Handelsregister) eingetragen. Dabei handelt es sich um die BAUHOLDING STRABAG SE.
In Deutschland hatten sich bereits frühzeitig zahlreiche Großkonzerne wie etwa die Allianz, MAN Diesel und Porsche für die Rechtsform der Europäischen Gesellschaft (SE) entschieden. Die Rechtsform bewährte sich offenbar in den Augen vieler Konzernleitungen. In den letzten zwölf Jahren nahmen Großunternehmen aller Couleur (Fresenius, MAN, Bertelsmann, Bilfinger, Hannover Rück, Puma, Eon, Deutsche Annington Immobilien, Sixt, Axel Springer, SAP, Airbus Group) die Möglichkeit des Rechtsformwechsels wahr. Auch künftig ist damit zu rechnen, dass weitere namhafte Unternehmen diesen Beispielen folgen werden. Im Jahr 2017 wechselte auch der Finanzdienstleister MLP in die Rechtsform der SE. Die Deutsche Börse AG ist diesen Schritt dagegen trotz positiven Votums der Hauptversammlung nicht gegangen. Für die Gesellschaften war die internationale Ausrichtung der Europäischen Gesellschaft (SE) stets ein entscheidender Aspekt für die Wahl der Rechtsform. Zu der Verschmelzung der Allianz zu einer SE hatte der Chefsyndikus der Allianz SE allerdings kritisch angemerkt, dass gerade die Vereinbarung über Beteiligung der Arbeitnehmer einen hohen Aufwand bei dem Rechtformwechsel in die SE darstelle.
Rz. 2035
Entgegen kritischer Stimmen über die Akzeptanz der SE im Segment kleiner und mittlerer Unternehmen im Vorfeld des Inkrafttretens der SE-VO, erfüllte sich die Erwartungshaltung des Verordnungsgebers. Eine große Zahl deutscher KMU nutzte die Chance zur Internationalisierung durch den Rechtsformwechsel in eine Europäische Gesellschaft (SE). So anfangs die "Go East Invest" SE (Berlin), die "Atrium Erste Europäische VV" SE (Düsseldorf) oder die "Zoll Pool Hafen Hamburg" SE. In den letzten Jahren beschritten diesen Weg u.a. die SGL Carbon, Deichmann, Dekra, der Oberflächenspezialist Impreglon, die Luchs Petrolub, KTG Agrar sowie der Windanlagenhersteller REpower Systems (nunmehr unter Senvion firmierend), der sich später in eine AG zurückwandelte. Ferner beschritten diesen Weg die Deutsche Wohnen SE (seit 31.7.2017), die Xing SE (seit 15.9.2017), die MLP SE (seit 22.9.2017), die About You SE (seit 16.9.2022) sowie die Flixmobility SE (seit 7.4.2022). Der Grund dürfte vor allem darin liegen, dass die SE die Vorteile jeweils von GmbH und AG auf sich vereint. So können Mittelständler wie in einer GmbH Kontrolle und Leitung auf sich vereinen, zugleich aber in den Genuss der Vorteile einer kapitalmarktorientierten Finanzierungsstruktur wie bei der AG kommen. Die Zahlen zur deutschen SE zeigen, dass viele kleinere mittelständische und nicht börsennotierte SEs ein monistisches Leistungssystem besitzen. Eigentlicher Hintergrund des sprunghaften Anstiegs deutscher SEs im KMU-Segment war aber vor allem die Motivation, dem in den Hochzeiten der Wirtschaftskrise auf dem Heimatmarkt einbrechenden Konsum durch eine internationalere Ausrichtung der Unternehmen wettzumachen.
Rz. 2036
Auch abseits von Namen und bei bloßer Betrachtung der Statistik lässt sich sagen, dass die SE in den letzten Jahren hierzulande eine Blütezeit erlebte und in der deutschen Unternehmenskultur angekommen ist. Waren 2009 noch ca. 200 SEs in deutschen Handelsregistern eingetragen, so stieg diese Zahl bis 2012 auf 234 SE, bis zum 1.1.2023 auf 905. Knapp ein Viertel alle davon hat ihren Sitz in Bayern. Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland jedenfalls bei den Gesellschaften mit tatsächlich operativem Geschäft, die mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigen, eine Spitzenstellung ein.
Rz. 2037
In den übrigen europäischen Ländern wird die Möglichkeit zur Internationalisierung durch den Rechtsformwechsel in eine SE bisweilen nur sehr zögerlich wahrgenommen. Dies mag mit der außerordentlichen Exportorientierung der deutschen Wirtschaft erklärbar sein. Auffallend ist in diesem Zusammenhang jedoch ebenso, dass die Möglichkeiten zur Verwirklichung und Erleichterung europäischer Zusammenschlüsse von Großunternehmen, die die SE-VO zweifellos bietet und derentwegen sie auch erlassen wurde, in der gesellschaftsrechtlichen Praxis kaum wahrgenommen wurden. Beispiele abseits der prominenten Verschmelzung von Allianz AG und R.A.S. Spa finden sich kaum. In Betracht gezogen wurde sie etwa bei der letztlich aus kartellrechtlichen Gründen aufgegebenen Fusion zwischen New Yorker Stock Exchange (NYSE) und Deutscher Börse. Allerdings war die SE neben der Gründung einer niederländischen B.V. nicht erste und einzige Wahl. Zuletzt wurde im Biotech-Bereich im Mai 2013 durch einen "Merger of Equals" zwischen der österreichischen Intercell AG und der französischen Vivalis SA die Valneva SE gegründet. Letztlich hat die Union aber selbst durch den Erlass der Verschmelzungsrichtlinie (2005/56/EG) die Anreize zugunsten der SE bei Rechtsformwa...