Dr. Heribert Heckschen, Dr. Christoph Löffler
Rz. 2223
Der hohe Mitbestimmungsstandard in Deutschland wird von vielen Unternehmen als hinderlich für die unternehmerische Entwicklung empfunden. Es ist anzuerkennen, dass die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Deutschland einen guten Teil dazu beigetragen hat, dass sich die Wirtschaft in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg so exzellent entwickelt hat. Ob die derzeitigen Mitbestimmungsregelungen unter den Bedingungen globalisierter Märkte noch zeitgemäß sind, muss allerdings stark bezweifelt werden. So suchen Unternehmen mit Sitz in Deutschland immer öfter nach einer Möglichkeit, den rigiden deutschen Mitbestimmungsregelungen zu entrinnen.
Die früher mögliche Verschmelzung mit einer britischen PLC (das britische Recht kennt keine Mitbestimmung wie sie in Deutschland üblich ist) ist nach dem vollzogenen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union nicht mehr möglich.
a) Verschmelzung zu einer mitbestimmungsfreien SE in Deutschland
Rz. 2224
Bei der Verschmelzung zweier AGen zur Neugründung kann die neu gegründete SE ihren Sitz innerhalb der EU/des EWR frei wählen. Es können also zwei AGen, die mitgliedstaatlichem Recht unterliegen, das keine Mitbestimmungsregeln wie in Deutschland kennt, zu einer SE mit Sitz in Deutschland verschmolzen werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer eine unternehmerische Mitbestimmung vorsieht. Ein solches Ergebnis entspricht dem Vorher-Nachher-Prinzip. Die SE mit Sitz in Deutschland wäre dann nicht mitbestimmt. Die nationalen Regelungen über die Mitbestimmung in den Organen der Gesellschaft finden gem. § 47 Abs. 1 Nr. 1 SEAG keine Anwendung.
b) Sitzverlegung einer mitbestimmungsfreien SE nach Deutschland
Rz. 2225
Unter Zuhilfenahme einer SE besteht u.U. eine weitere Möglichkeit, ein mitbestimmungsfreies Unternehmen in Deutschland zu schaffen. Zunächst könnte eine Europäische Gesellschaft in Großbritannien gegründet werden. Das britische Recht kennt keine Mitbestimmung wie in Deutschland. Es muss zwar bei einer SE, die britischem Recht unterliegt, eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer geschlossen werden. Wenn aber alle beteiligten Gründungsgesellschaften dem Recht von Mitgliedstaaten unterlagen, die keine (strengen) Regelungen zur Mitbestimmung kennen, wird auch die Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer keine (strengen) Mitbestimmungsregelungen enthalten. In einem weiteren Schritt kann die SE ihren Sitz nach Deutschland verlegen. Die SE-VO sowie die Arbeitnehmerbeteiligungsrichtlinie regeln in erster Linie die Arbeitnehmerbeteiligung bei der Gründung einer Europäischen Gesellschaft (SE). Die Sitzverlegung einer SE ist zwar in Art. 8 SE-VO detailliert geregelt. Nicht explizit angesprochen ist allerdings die Frage, welche Auswirkungen eine Sitzverlegung auf die Arbeitnehmerbeteiligung der SE hat. Hervorgehoben wird in Art. 8 Abs. 1 SE-VO besonders die Identitätswahrung der Gesellschaft. Das bedeutet, dass die Struktur der Gesellschaft erhalten bleibt. Daraus folgt aber auch, dass sich mit der Verlegung des Sitzes über die Grenze hinweg die Rechte der Arbeitnehmer nicht ändern. Die wohl herrschende Meinung in der Literatur folgert daraus, dass auch im Hinblick auf die Arbeitnehmerbeteiligung Kontinuität und kein Neuverhandlungsanspruch besteht. Im Ergebnis folgt daraus, dass auch auf diesem Wege mitbestimmungsfreie SE in Deutschland ihren Sitz haben bzw. nehmen können. Die deutschen Mitbestimmungsregelungen finden gem. § 47 Abs. 1 Nr. 1 SEAG auf die SE keine Anwendung.
Beispiel
Es ist ein Fall bekannt geworden, in dem eine SE ihren (Satzungs-)Sitz unter Wahrung Ihrer Identität auf die Cayman Islands verlegt hatte. Eine in den Niederlanden gegründete SE hatte zunächst ihren Sitz nach Luxemburg verlegt. Es verwundert zunächst, dass ein "Wegzug" einer SE aus dem Gebiet der EU/des EWR zulässig sein soll. Indes entfalten die Art. 7 und Art. 8 SE-VO keine Sperrwirkung gegen eine Sitzverlegung aus dem EU/EWR-Raum hinaus. Die Möglichkeit der Sitzverlegung dient der Umsetzung der europarechtlichen Grundfreiheiten, namentlich Art. 49 und Art. 54 AEUV. Einzig Sitz und Hauptverwaltung einer SE müssen gem. Art. 7 Satz 1 SE-VO in der Gemeinschaft liegen. Für den Fall bedeutete dies, dass die Gesellschaft ihr Rechtskleid der SE nicht beibehalten durfte: Europäische Gesellschaften gibt es eben nur in der EU/im EWR. Da die SE-VO demnach keine ausdrückliche Regelung enthält, sind die nationalen Rechtsvorschriften anzuwenden. Das luxemburgi...