Dr. Heribert Heckschen, Dr. Christoph Löffler
Rz. 1419
Problematisch ist der Widerruf der Stimmabgabe bei der Briefwahl. Praktisch relevant wird die Frage, wenn der Aktionär nach Abstimmung per Briefwahl doch noch persönlich oder durch einen Vertreter bzw. virtuell an der Hauptversammlung teilnimmt. Die Stimmabgabe ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung (§ 130 BGB). Der Widerruf der Stimmabgabe ist vor Zugang nach allgemeinen Grundsätzen zulässig, danach nur noch aus wichtigem Grund. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Festhalten an der ursprünglich abgegebenen Stimme treuwidrig wäre. Auch darf die beschlossene Maßnahme in Anwendung der Grundsätze zum fehlerhaften Beschluss noch nicht vollzogen sein. Zulässig ist auch eine Anfechtung nach §§ 119 ff. BGB. Empfänger der Stimmabgabe ist in der Hauptversammlung der Versammlungsleiter als Vertreter der Gesellschaft.
Rz. 1420
Gleiches gilt bei der Briefwahl. Bei der Stimmabgabe per Briefwahl erfolgt die Stimmabgabe zunächst ggü. der Gesellschaft. Die abgegebene Stimme wird dem Versammlungsleiter durch den Vorstand als Vertreter der AG als Empfangsbote übermittelt. Ein Zugang ist gegeben, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers (= Versammlungsleiter) gelangt ist, dass dieser unter normalen Umständen die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat. Ab diesem Zeitpunkt ist ein Widerruf nur noch aus wichtigem Grund möglich. Für die Stimmabgabe per Briefwahl bestehen sonach keine Besonderheiten.
Rz. 1421
Allerdings wird man den für einen Widerruf maßgeblichen Zugang nicht schon dann annehmen können, wenn die Briefwahlstimmen der Gesellschaft zugegangen sind. Entscheidend ist der Zugang beim Versammlungsleiter. Die Hauptversammlung muss eröffnet sein. Erst dann gibt es einen Versammlungsleiter. Ob allerdings weitere Voraussetzung für den Zugang ist, dass der Versammlungsleiter mit der konkreten Abstimmung begonnen hat, erscheint zweifelhaft.
Rz. 1422
Es besteht ein erheblicher Gestaltungsspielraum für die Satzung: So kann z.B. der Briefwahlschluss deutlich vor der Hauptversammlung festgesetzt werden. Aktionärsrechte werden dadurch nicht beeinträchtigt, da die Gesellschaften i.d.R. nicht verpflichtet sind, eine Briefwahl anzubieten. Auch dann, wenn die Satzung den Aktionären einen gebundenen Anspruch hierauf gibt, gilt nichts anderes. Wenn die Aktionäre mit dieser Einschränkung nicht einverstanden sind, können und müssen sie selbst oder durch einen Vertreter ihr Stimmrecht in der Hauptversammlung ausüben.
Rz. 1423
Darüber hinaus können Regelungen zum Widerruf der Stimmabgabe per Briefwahl eingeführt werden, etwa, dass eine Stimmabgabe per Briefwahl automatisch erlischt mit der persönlichen Teilnahme des Aktionärs oder eines Vertreters des Aktionärs in der Hauptversammlung. Statthaft wäre ebenso, einen Widerruf bzw. eine Änderung der Stimmabgabe noch bis zum Beginn bzw. zur Beendigung des Abstimmungsvorgangs zuzulassen.