Dr. iur. Holger Bremenkamp
Rz. 25
Die Erfolgschancen einer ärztlichen Behandlung hängen zunächst entscheidend von Richtigkeit und Genauigkeit der Diagnose ab. Der Arzt muss daher vor der Therapie stets das Krankheitsbild abklären. Erst auf der Grundlage einer möglichst exakten und umfassenden Befunderhebung darf er mit der Behandlung beginnen (Pflicht zur Diagnosestellung). Andererseits hat er Überdiagnostik zu vermeiden; sie kann, insbesondere bei invasivem Vorgehen, zur Haftung führen.
Rz. 26
Auch bei Einsatz vielfacher technischer Hilfsmittel bei der Untersuchung des Patienten sind die Symptome einer Erkrankung nicht stets eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Krankheiten hinweisen. Erst recht sind vorläufige Diagnosen, wie sie etwa nach Unfällen zum Zweck der unverzüglichen Behandlung des Unfallpatienten gestellt werden müssen, mit hohen Unsicherheitsfaktoren belastet. Das entbindet den Arzt zwar nicht von der Verpflichtung, sein Können und Wissen sorgfältig einzusetzen und die Risiken für den Patienten gewissenhaft abzuwägen. Den Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung trägt die Rechtsprechung aber insofern Rechnung, als sie Diagnoseirrtümer nur mit Zurückhaltung als Folge eines vorwerfbaren Verhaltens des Arztes ansieht, nämlich insbesondere,
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wenn das diagnostische Ergebnis nicht mehr vertretbar erscheint; |
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wenn ein klares Krankheitsbild nicht erkannt wurde, insbesondere für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnende Symptome nicht ausreichend berücksichtigt wurden; |
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wenn die anfängliche Diagnose ("Arbeitsdiagnose") nicht im Lichte des weiteren Behandlungsverlaufs überprüft wurde, obwohl die gewählte Behandlung keine Wirkung zeigt (mangelnde Abklärung einer Verdachtsdiagnose) oder |
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wenn die Fehldiagnose auf dem Nichterheben gebotener Befunde beruht (dann Befunderhebungsfehler, vgl. Rdn 28). |
Rz. 27
Die Zurückhaltung bei der Bewertung einer Fehldiagnose im Sinne einer falschen Interpretation von Krankheitssymptomen und -befunden (Diagnoseirrtum im engeren Sinne oder Diagnosefehler) als Behandlungsfehler des Arztes ist allerdings nicht dahin zu verstehen, dass lediglich völlig unvertretbare diagnostische Fehlleistungen zur Haftung führen. Soweit in der Rechtsprechung auf einen fundamentalen Diagnoseirrtum abgestellt wird, handelt es sich stets um Fälle, in denen ein grober Behandlungsfehler in Betracht zu ziehen war. Für die Annahme eines einfachen Behandlungsfehlers genügt es hingegen, dass das diagnostische Vorgehen als für einen gewissenhaften Arzt nicht vertretbar erscheint: Ein Diagnoseirrtum liegt daher bereits vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift.
Rz. 28
Als Korrektiv der eher hohen Schwelle für die Annahme eines Diagnoseirrtums im engeren Sinne stellt die Rechtsprechung strenge Anforderungen an den Umfang der Befunderhebung. Häufig wird dem Arzt im Diagnosebereich mit Erfolg als Befunderhebungsfehler zur Last gelegt, er habe die gebotenen diagnostischen Maßnahmen unterlassen oder nicht veranlasst, also eine ungezielte Therapie eingeleitet. Denn der Arzt ist verpflichtet, alle Erkenntnisquellen auszuschöpfen, die nach dem Stand der ärztlichen Wissenschaft sinnvoll und verfügbar sind. Ein Befunderhebungsfehler kann auch darin bestehen, dass die medizinisch gebotene Befundung mit einem nur notdürftig reparierten Gerät erfolgt. Bei einem mehrdeutigen Krankheitsbild sind auch entfernt liegende Krankheitsursachen in Betracht zu ziehen und abzuklären, wobei bei ungeklärtem Krankheitsbild vor allem die Diagnosemöglichkeiten hinsichtlich schwerwiegender Erkrankungen ausgeschöpft werden müssen. Erscheint aber eine Diagnose aufgrund des klinischen Befunds und der Symptomatik gesichert, so hat der Arzt nicht noch weitere diagnostische Maßnahmen zu veranlassen. Diagnosemaßnahmen sind somit in dem Umfang zu betreiben, wie das von einem verständigen Arzt in vergleichbarer Situation nach den anerkannten Regeln der Diagnostik erwartet werden darf. Kann ein Arzt eine für die Behandlung notwendige Untersuchung nicht selbst vornehmen, so hat er den Patienten vor Beginn der Behandlung an ein Krankenhaus bzw. an einen Spezialisten mit entsprechenden Diagnosemöglichkeiten zu verweisen. Allerdings muss der Allgemeinarzt nicht schon bei unspezifischen Beschwerden, sondern erst bei einem konkreten Verdacht für weitere Untersuchungen an einen Facharzt überweisen. Wird ein anderer Arzt als Spezialist eingeschaltet, kann sich der überweisende Arzt – abgesehen von einer Plausibilitätskontrolle – grundsätzlich auf dessen Diagnose verlassen.
Rz. 29
Nicht um einen Befunderhebungsfehler handelt es sich allerdings, wenn der Patient über die Notwendigkeit einer weiteren Kontrolle informiert wird, ohne dass auf die Dringlichkeit der weiteren Befunderhebung hingewiesen wird. Dann liegt der ...