Rz. 28
Anerkannt ist, dass jeder Miterbe notwendige Maßregeln ohne Mitwirkung der anderen Miterben treffen kann, um den Nachlass zu erhalten (§ 2038 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 BGB). Notverfügungen kann jeder Miterbe allein treffen; er handelt dabei für alle Miterben.
Das Notverwaltungsrecht kann der Minderjährige durch seinen gesetzlichen Vertreter ausüben. Er handelt zugleich als gesetzlicher Vertreter für die anderen Miterben. Handelt ein anderer Miterbe im Rahmen der Notverwaltung, wird der Minderjährige aufgrund der gesetzlichen Vertretungsmacht des Handelnden vertreten. Diese gesetzliche Vertretungsmacht erstreckt sich sowohl auf Verpflichtungs- als auch auf Verfügungsgeschäfte.
Rz. 29
Wenn nun der Minderjährige, vertreten durch seinen gesetzlichen Vertreter, eine Notmaßnahme vornimmt, die eine Verfügung darstellt, z.B. die Anfechtung eines Kaufvertrags und der dazugehörigen Auflassung betreffend den Grundstückserwerb des Minderjährigen wegen Täuschung (§ 123 BGB), bedarf er der Genehmigung nach § 1643 Abs. 1, 1850 Nr. 1 BGB? Die Anfechtungserklärung des Kaufvertrags und eventuell der Auflassung ist eine Verfügung betreffend den schuldrechtlichen Kaufvertrag und betreffend das Grundstücksrecht, hier das Eigentum, weil auf diese Rechte durch die Anfechtungserklärung unmittelbar eingewirkt wird; der Kaufvertrag wie Eigentumserwerb sind aufgrund der Anfechtung von Anfang an nichtig.
Wenn nicht der Minderjährige die Notmaßnahme vornimmt, sondern ein anderer (volljähriger) Miterbe aus dem Kreis der Miterben, zu denen auch der Minderjährige zählt, muss auch der handelnde Miterbe die familiengerichtliche Genehmigung einholen, ungeachtet des Umstandes, dass er dazu nach h.M. gar nicht befugt ist (siehe Rdn 17), weil den Antrag nur der gesetzliche Vertreter des Minderjährigen stellen kann?
Rz. 30
Bei Verträgen sind Genehmigungen gemäß §§ 1644 Abs. 3 S. 1, 1800 Abs. 2 S. 1, 1813 Abs. 1, 1856 BGB nach Vertragsschluss möglich. Bei einseitigen Rechtsgeschäften bedarf es gemäß § 1858 Abs. 1 BGB der vorherigen Genehmigung; sie muss notfalls auch schriftlich dem Geschäftsgegner vorgelegt werden (vgl. § 1858 Abs. 2 BGB). Wenn Notmaßnahmen, die nur vorliegen, wenn es brandeilig ist und die Zustimmung im Rahmen ordentlicher Verwaltung nicht eingeholt werden kann, der familiengerichtlichen Genehmigung nach §§ 1848–1854 BGB bedürften, wären sie praktisch nicht mehr durchführbar, weil sie fast immer zu spät kämen. Dann müssten Notmaßnahmen eben unterbleiben und die Miterben müssten den Schaden daraus tragen. Ein unbilliges Ergebnis. Daher: Auch bei minderjährigen Miterben können Notmaßnahmen auch durchgeführt werden, wenn zu den Miterben Minderjährige zählen.
Rz. 31
Denn es handelt sich um eine aus § 745 Abs. 1 BGB folgende gesetzliche Vertretungsmacht und nicht um eine rechtsgeschäftliche Vollmacht, Ermächtigung oder Ähnliches.
Rz. 32
§§ 1643 Abs. 1, 1850–1854, 1799 Abs. 1, 1813 Abs. 1, 1848–1854 BGB sprechen jeweils von Eltern oder Elternteilen, Vormund, Betreuer oder Pfleger. Diese Vorschriften sprechen niemals abstrakt vom gesetzlichen Vertreter, erfassen also nicht alle Fälle gesetzlicher Vertretung. Für die Vorschriften, die betreuungs- oder familiengerichtliche Genehmigung fordern, ist heute anerkannt, dass man dem Grundsatz der formalen Auslegung folgen muss. Wenn man die aufgeführten Genehmigungsvorschriften formal auslegt, erfassen sie allesamt nicht den Fall der hier aufgezeigten gesetzlichen Vertretung nach § 745 BGB.
Rz. 33
Ergebnis: Auch bei Notverwaltungsgeschäften braucht der Handelnde weder bei Verpflichtungsgeschäften noch bei Verfügungsgeschäften, mag der Handelnde der Minderjährige, vertreten durch seinen gesetzlichen Vertreter, oder ein anderer Miterbe sein, der familiengerichtlichen Genehmigung, wenn sich die Maßnahmen im Rahmen der ordnungsgemäßen Verwaltung bewegen.
Rz. 34
Dieses Ergebnis stimmt mit folgender, bisher unwidersprochener Rechtsansicht überein: Der Erblasser, der einen Minderjährigen zum Erben einsetzt, hätte das Erfordernis einer gerichtlichen Genehmigung in jedem Fall vermeiden können, wenn er eine Vollmacht über den Tod hinaus erteilt hätte. Dann kann der Bevollmächtigte – soweit es den Nachlass des Minderjährigen betrifft – für diesen alle vom Umfang der Vollmacht gedeckten Rechtsgeschäfte auch zusammen mit eventuellen Miterben – tätigen und bedarf dazu keiner Zustimmung des Familiengerichts.
Rz. 35
Früher sah man überwiegend den Bevollmächtigten auch nach dem Tode des Vollmachtgebers noch als dessen Bevollmächtigten an. Nach heutiger Auffassung hingegen vertritt der Bevollmächtigte nicht den Erblasser, sondern die Erben, beschränkt auf den Nachlass; von daher müsste das Handeln des Bevollmächtigten bei einem minderjährigen Erben als Vollmachtgeber der Genehmigungspflicht durch das Familiengericht unterliegen. Da aber die Vollmacht noch vom Erblasser erteilt wurde, sieht die h.M. von der Genehmigungspflicht ab; da der Bevollmächtigte aus vom Erblasser abgele...