Rz. 42
Aufgrund der Tatsache, dass der Vorerbe das ererbte Vermögen an den Nacherben weiterzugeben hat, besitzt er nur eine eingeschränkte Vermögens- und Rechtsposition. Der Vorerbe ist in seiner Verfügungsmöglichkeit nicht so frei wie der Vollerbe. Gemäß § 2112 BGB ist der Vorerbe grundsätzlich in seiner Verfügungsmöglichkeit nicht beschränkt, sofern die §§ 2113–2115 BGB nichts anderes bestimmen.
Von diesen gesetzlichen Beschränkungen kann der Erblasser aber durch letztwillige Verfügung, zumindest teilweise, abweichende Bestimmungen treffen. Von welchen Beschränkungen der Vorerbe im Einzelnen befreit werden kann, bestimmt § 2136 BGB, wobei es sich hierbei mit Ausnahme des nicht erwähnten § 2124 BGB um eine abschließende Aufzählung handelt. Eine Befreiung von unentgeltlichen Verfügungen (§ 2113 Abs. 2 BGB) und von der Surrogation nach § 2111 BGB ist daher nicht möglich. Will der Erblasser den Vorerben von allen Beschränkungen befreien, muss er ihn zum Vollerben einsetzen und dem eigentlich als Nacherben Bedachten ein Herausgabevermächtnis auf dasjenige zuwenden, was zum Zeitpunkt des Erbfalls des Vorerben noch vorhanden ist.
Rz. 43
Die Befreiung selbst muss in der letztwilligen Verfügung erfolgen. Sie kann auch, wenn sie nicht ausdrücklich angeordnet ist, durch Auslegung ermittelt werden, sofern hinreichende Anhaltspunkte im Testament vorhanden sind. Aus der Bezeichnung "Alleinerbe" kann allerdings kein Rückschluss auf eine befreite Vorerbschaft gezogen werden. Auch der im Testament genannte Wunsch, dass der als Vorerbe bestimmte Ehegatte noch lange leben möge, lässt die Annahme einer befreiten Vorerbschaft nicht zu. Auch in der Erteilung einer Vollmacht zugunsten des Vorerben kann für sich genommen noch keine ausreichende Andeutung für eine befreite Vorerbschaft angenommen werden. Darüber hinaus kann die Befreiung auch stillschweigend erfolgen, bspw. wenn der Erblasser wegen Fehlens eigener Abkömmlinge entfernte Verwandte zu Nacherben eingesetzt hat.
Rz. 44
Die Rechtsstellung des Vorerben kann mithin sehr unterschiedlicher Natur sein: Er kann entweder nur ein "besserer Nießbraucher" oder aber weitgehend "Herr über den Nachlass" sein, so dass im Wege der Nacherbfolge nur das weitervererbt wird, was der Vorerbe übrig lässt. Im juristischen Sprachgebrauch spricht man entweder von der befreiten oder der nicht befreiten Vorerbschaft. Der befreite Vorerbe kann im Gegensatz zum nicht befreiten Vorerben Nachlassvermögen veräußern und unter Schonung seines Eigenvermögens verbrauchen.
Rz. 45
Für die Gestaltung ist zu berücksichtigen, dass es auch eine teilweise befreite bzw. teilweise nicht befreite Vorerbschaft gibt. Wie im Folgenden noch näher dargestellt wird, ist eine globale Beschränkung wie auch Befreiung nicht sinnvoll, sondern abhängig vom jeweiligen Einzelfall zu differenzieren. Bezüglich derjenigen Beschränkungen, von denen der Vorerbe nicht befreit werden kann (Schenkungsverbot, Surrogationsprinzip, Schadensersatz) bleibt zu prüfen, inwieweit eine mittelbare Befreiung mittels Genehmigungspflichten angeordnet werden kann, die den Nacherben vermächtnisweise verpflichtet, nach dem Eintritt des Nacherbfalls die Maßnahmen des Vorerben als ordnungsgemäß anzuerkennen.
Trotz Befreiung kann der Erblasser auch für die Dauer der Vorerbschaft eine Dauertestamentsvollstreckung anordnen oder den Vorerben mit Auflagen und Vermächtnissen beschweren.