Rz. 121

Durch Art. 13 Abs. 2 HKÜ wird den Kindern die Möglichkeit zur Wahrnehmung der eigenen Interessen gegeben. Dem Kindeswillen kommt aber nicht die Bedeutung zu, die er in einem Sorgerechtsverfahren hat.[355] Bei der Anwendung von Art 13 Abs. 2 HKÜ ist zu prüfen, ob sich das Kind aus freien Stücken, also nicht erkennbar maßgeblich durch den Entführer beeinflusst, und mit Nachdruck der Rückkehr in den Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes widersetzt. Dabei sind die Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, auch welche Umstände auf das Kind einwirken und wie es den Loyalitätskonflikt im Verhältnis zu den Eltern verarbeiten kann. Hat ein Kind das entsprechende Alter und die Reife, angesichts derer es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen, muss von der Rückgabe abgesehen werden, wenn sich das Kind dieser Maßnahme widersetzt.[356]

Das Gericht hat im Rahmen der Anwendung des Art. 13 Abs. 2 HKÜ Ermessen ("kann"). Kriterien für die Ermessensausübung sind etwa

die Ziele und Zwecke des HKÜ, insbesondere des Gedankens der Generalprävention;[357]
der besondere Schutz von Kindern vor internationalen Kindesentführungen;[358]
das Alter des Kindes – regelmäßig: je älter, desto eher;[359]
die Stärke der ablehnenden Haltung;[360] nach der Rechtsprechung des EGMR müssen die Gerichte versuchen, das gegen eine Rückkehr eingestellte Kind umzustimmen;[361]
die von Kind genannten Gründe für sein Widersetzen;[362] diese müssen sachbezogen sein, sich also auf die Lebensumstände und die Verwurzelung am neuen Aufenthaltsort beziehen; Art. 13 Abs. 2 HKÜ gibt dem Kind insbesondere kein Wahlrecht zwischen beiden Elternteilen;[363] anerkennenswerte Motive sind insbesondere eine gute soziale Einbindung, Sprachkenntnisse, Freunde, die schulische Situation, Engagement in Sportvereinen und Arbeitsgemeinschaften sowie die Möglichkeit sonstiger privater Aktivitäten;[364]
der gesamte Kontext der ablehnenden Haltung,[365] insbesondere der Grad der Beeinflussung des Kindes durch den entführenden Elternteil;[366]
das Wohlergehen des Kindes;[367]
die Vermeidung einer Geschwistertrennung; es kann trotz einer hinreichende reifen Entscheidung eines Kindes wegen des anderen Kindes eine Rückführung beider Geschwister angeordnet werden;[368] umgekehrt können auch sämtliche Geschwister am neuen Aufenthaltsort verbleiben, wenn die Trennung aufgrund einer intensiven emotionalen Bindung zwischen den Geschwistern mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens verbunden ist.[369]
 

Rz. 122

Die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 HKÜ unterliegen nach § 14 Nr. 2 IntFamRVG, § 26 FamFG dem Amtsermittlungsgrundsatz.[370]

Die Vorschrift des Art. 13 Abs. 2 HKÜ enthält keine starre Altersgrenze im Sinne eines Mindestalters für die Berücksichtigung des Kindeswillens.[371] Auch ein Höchstalter, ab dem der Kindeswille stets zu berücksichtigen wäre, existiert nicht.[372] Ist im Einzelfall das Alter des Kindes zweifelhaft, sollte die Entscheidung darüber den zuständigen nationalen Behörden überlassen werden.[373]

 

Rz. 123

Die bei der Anhörung geäußerte "strikte Ablehnung" der entführten Kinder, zum anderen Elternteil in ihr Herkunftsland zurückzugehen, kann im Einzelfall ausreichen, die Rückführung gemäß Art. 13 Abs. 2 HKÜ abzulehnen. Dies gilt auch dann, wenn die Kinder erst ein Alter haben, bei dem die Gerichte üblicherweise dem Kindeswillen eher indizielle[374] als streitentscheidende Bedeutung zumessen.[375] Hier ist aber aufgrund der besonderen psychischen Situation, in der sich die Kinder befinden, erhebliche Zurückhaltung geboten. Je mehr sich das Kind der abkommensrelevanten Altersgrenze von 16 Jahren nähert, umso beachtlicher wird sein Wille sein.[376]

Wesentliche Anhaltspunkte für die Beurteilung der Reife eines Kindes sind

der Umstand, dass das Kind bereits in der Vergangenheit wesentliche Entscheidungen für sich selbst gut getroffen hat,
die Fähigkeit des Kindes, das Leben und die Verhältnisse in beiden Staaten zu vergleichen,[377]
die Fähigkeit, kurz- und langfristige Folgen seiner Entscheidung zu bedenken, insbesondere mögliche besonders schmerzhafte Konsequenzen wie die Trennung vom anderen Elternteil, aber auch von Geschwistern,[378]
der Umstand, dass die Möglichkeit eines Lebens mit dem anderen Elternteil im Herkunftsstaat in Betracht gezogen und gewogen wurde,[379]
nicht aber eine differenzierte, klare und eloquente Ausdrucksweise eines Kindes[380] oder dessen weit überdurchschnittliche Intelligenz oder gar Hochbegabung.[381]
[355] OLG Dresden FamRZ 2002, 1136 (siehe auch die Anm. der Redaktion zu dieser Entscheidung in FamRZ 2003, 468); siehe allgemein zur Bedeutung des Kindeswillens in Fällen internationaler Kindesentführung nach deutscher und kanadischer Rechtsprechung Tischer/Walker, NZFam 2014, 241 m.z.w.N zur Rechtsprechung.
[356] Exemplarisch und mit unterschiedlichen Ergebnissen: OGH Österreich IPRax 2014, 543 mit Bespr. Heiderhoff IPRax 2014, 525 (zwölf und 15 Jahre alt); OGH Wien ZfRV 2005, 117 (Kind war...

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