Rz. 92
Mit einer temporären Leibrente ist bei allen Renten-Positionen zu rechnen, die ein zeitlich genau vorauszubestimmendes Ende haben. Das ist z.B. bei dem "Verdienstausfall" bis zum Alter von 65 Jahren, zunehmend jetzt wohl auch schon 67 Jahre bei Männern, 63 Jahre bis 65 Jahre bei Frauen der Fall. Soweit Küppersbusch/Höher (Ersatzansprüche bei Personenschaden, 13. Auflage, Rn 861) bei Männern noch mit 63 Jahren und bei Frauen mit 60 Jahren rechnet, ist das heute sicher überholt und daher falsch.
Rz. 93
Nach der Rechtsprechung des BGH (zfs 1988, 101; zfs 1989, 338; zfs 1995, 441) muss bei einem unselbstständig Tätigen davon ausgegangen werden, dass er erst mit dem 65. Lebensjahr Altersruhegeld bezogen hätte, soweit nicht Gründe für eine abweichende Entwicklung ersichtlich sind. Das allein ist der "regelmäßige und normale Lauf der Dinge" i.S.d. Beweiserleichterungen des § 287 ZPO, sofern nicht ein unfallunabhängiger Gesundheitszustand des Verletzten, die Art seiner Tätigkeit (Pilot, Sportler, Polizist, Soldat) oder die tatsächlichen Verhältnisse bei dem konkreten Arbeitgeber (Insolvenz, Branchen mit überdurchschnittlich früher Verrentung oder Abfindungspraxis) dagegen stehen. Dabei können ggf. existierende Statistiken unter Umständen zu berücksichtigen sein (Lang, VersR 2005, 894).
Rz. 94
Die Auffassung, es gäbe ab dem 65. Lebensjahr eine natürliche Minderung der Arbeitsfähigkeit (BGH VersR 1976, 663), die eine Reduzierung des anschließenden Einkommens rechtfertige, ist sicher überholt und daher heute falsch.
Rz. 95
Beispiel (LG Stuttgart, DAR 2007, 467)
Der Verletzte V hat einen Anspruch wegen Verdienstausfalls – Renten der Sozialversicherung sind bereits abgezogen – jährlich in Höhe von 29.861 EUR bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (BGH VersR 1965, 1321). Er wurde am 2.1.1958 geboren. Stichtag ist der 1.1.2005. Wie hoch ist der Barwert? Es handelt sich um eine temporäre Leibrente auf ein Leben. Eine temporäre Rente ist zeitlich begrenzt. Sie läuft bis zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Alter: hier Erreichen des Alters 65 Jahre am 2.1. (1958 plus 65 gleich) 2023.
a) Berechnung nach Empfehlung Nehls
Rz. 96
Näherungsweise Lösung mit den Tabellen 1 und 2 (siehe § 14 Rdn 19 f.). Welches ist der einschlägige Faktor? Vorfragen: Wie ist der Rechnungszinsfuß und wie viele Jahre sind anzusetzen?
Rz. 97
Folgen wir hinsichtlich des reduzierten Kapitalmarktzinsfußes dem LG Stuttgart: 3,75 %. Wie hoch ist die Rentendynamik? Wir wollen wenigstens eine jährliche Inflationsrate von 1,25 % berücksichtigen. Wie lautet der Rechnungszinsfuß? Rechnungszinsfuß gleich reduzierter Kapitalmarktzinsfuß 3,75 minus Rentendynamik 1,25 gleich 2,5 %.
Rz. 98
Der zu berücksichtigende Zeitraum: 1.1.2005 bis 2.1.2023, also 18 Jahre. Bei 18 Jahren und Rechnungszinsfuß 2,5 lautet der Faktor 14,547 (Tabelle 2, siehe § 14 Rdn 20). Der Faktor bedeutet, wenn ich 14,55 EUR habe, kann ich bei einem Rechnungszinsfuß von 2,5 % 18 Jahre lang 1 EUR bezahlen, bzw. bei einem Kapitalmarktzinsfuß von 3,75 % eine Rente von anfangs 1 EUR bezahlen, die sich jährlich um 1,25 % erhöht.
Rz. 99
Barwert gleich Jahresrente 29.861 EUR mal Faktor 14,547 gleich 434.388 EUR.
b) Versicherungsmathematische Einwendungen
Rz. 100
Versicherungsmathematisch wird gegen den Faktor 14,547 zu Recht eingewandt, dass er die Möglichkeit nicht berücksichtigt, dass V vor Erreichen des 65. Lebensjahres vorversterben kann (z.B. durch Unfall oder Krankheit).
c) Lösung durch "capitalisator"
Rz. 101
Der "capitalisator" ermittelt folgenden versicherungsmathematischen Barwert: – Sterbetafel 2005/2007, Mortalitätsrente auf ein Leben, Mann Alter 47 Jahre, sofort beginnend, temporär bis Alter 65 Jahre, Kapitalisierungszinsfuß 3,75 %, vierteljährlich vorschüssig, Rentendynamik 1,25, Jahresrente (Startwert) 29.861 EUR – 415.059 EUR.
d) Berechnungsweise Versicherer
Rz. 102
Liegt ein "wichtiger Grund" nicht vor, wird die Assekuranz hier folgendes Angebot unterbreiten – es wird unterstellt, dass die Assekuranz die Jahresrente in Höhe von 29.861 EUR akzeptiert:
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keine Laufzeit bis 65 Jahre mit den Argumenten: Arbeitslosigkeit, frühzeitige Erwerbsunfähigkeit; deshalb Ende 63 Jahre – im Vergleich könnte der Anwalt insoweit mitgehen – oder gar 60 Jahre; |
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Faktor nach Tabelle I/3 von Küppersbusch/Höher (a.a.O., 13. Auflage, Männer, temporäre Leibrente bis zum 63. Lebensjahr) bei Alter 47 Jahre und Zinsfuß 5 % 10,797; Barwert: 29.681 EUR mal 10,797 gleich 320.466 EUR – statt 415.059 EUR. |
Rz. 103
Die Assekuranz ist nicht bereit, eine Rentendynamik und die Reduzierung des Kapitalmarktzinsfußes wegen Steuern zu beachten – beides entgegen der Rechtsprechung des BGH.
Rz. 104
Liegt ein "wichtiger Grund" vor, kann mit einer Verurteilung des Schädigers und seines Versicherers in Höhe von etwa 415.000 EUR gerechnet werden. Das LG Stuttgart errechnet nur 393.228 EUR. Der Grund: Das Gericht hat in unrichtiger Weise, vielleicht sogar nur irrtümlich, eine Rentendynamik – in Höhe der Inflation – nicht beachtet.