Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 250
Die Sozialhilfeschädlichkeit von Fallgestaltungen, bei denen Pflichtteilsansprüche entstehen, wurde vorstehend viele Male dargestellt. Gleichwohl geschieht es in der Praxis.
Fallbeispiel 97: Die Pflichtteilsstrafklausel
Die Eheleute M und V setzen sich wechselseitig als Alleinerben ein und treffen die Anordnung, dass nach dem Tod des Letztversterbenden ihr Sohn S zu 70 % als Erbe und ihre heimpflegebedürftige Tochter T zu 30 % als nicht befreite Vorerbin eingesetzt ist.
Sollte eines der Kinder auf den Tod des Erstversterbenden den Pflichtteil verlangen, erhält er auch auf den Tod des Letztversterbenden nur seinen Pflichtteil. Der Sozialhilfeträger leitet die Pflichtteilsansprüche der Eltern nach deren Tod jeweils auf sich über und macht den Pflichtteil geltend. Für beide Erbfälle richtig?
Rz. 251
Um Kinder von der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen abzuhalten, wird in letztwillige Verfügungen oft eine Pflichtteilsstrafklausel eingebaut, wonach ein Kind, das seinen Pflichtteil nach dem erstversterbenden Ehegatten verlangt, auch nach dem Tod des Überlebenden "auf den Pflichtteil gesetzt wird." Damit entsteht eine Schein-Sicherheit, die durch diese Klausel suggeriert wird ("Das wird ein Kind doch vernünftigerweise nicht tun!"). In der Literatur ist diese Lösung unter dem Stichwort "Kolumbus-Ei oder trojanisches Pferd?" diskutiert worden. Der BGH hat sich bisher für das "trojanische Pferd" entschieden und ausgeführt, dass der Sozialleistungsträger den Pflichtteilsanspruch nach dem Erstversterbenden überleiten und geltend machen kann: "Der Pflichtteilsanspruch kann, wenn er auf den Sozialhilfeträger übergeleitet worden ist, von diesem auch geltend gemacht werden, ohne dass es insoweit auf eine Entscheidung des Pflichtteilsberechtigten ankäme."
Rz. 252
Der Pflichtteilsanspruch entsteht mit dem Erbfall kraft Gesetzes und wird sofort fällig (§ 2317 BGB). Er stellt also Einkommen oder ggf. Vermögen dar, das lediglich kein "bereites Mittel" im Sinne des Sozialhilferechtes ist, weil es erst realisiert werden muss. Damit ist eine Pflichtteilsstrafklausel in einem Testament kein geeignetes Mittel zur Erreichung des Ziels eines Behindertentestamentes. Die Anordnung einer solchen Klausel für das behinderte Kind wird deshalb heute als geradezu typischer Fehler durch unkritische Übernahme von Mustertexten insbesondere des Berliner Testaments gesehen. Zumindest muss der bedürftige Sozialleistungsempfänger ausdrücklich von der Pflichtteilsstrafklausel ausgenommen werden.
Rz. 253
Für den Fall, dass "nichts mehr geht", weil eine letztwillige Verfügung eben nicht das erstrebte Ergebnis erreicht, stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen. Zunächst ist danach zu unterscheiden, dass die letztwillige Verfügung terminologisch zwar grundsätzlich gleichbedeutend mit dem Begriff des Testaments ist, aber auch die einzelne einseitige Anordnung, die in einem Testament oder Erbvertrag enthalten ist, meinen kann. Die Nichtigkeit einer einzelnen letztwilligen Verfügung betrifft nicht notwendig die gesamte Verfügung von Todes wegen, denn § 2085 BGB enthält eine von § 139 BGB abweichende Regelung.
Rz. 254
§ 2085 BGB regelt, dass die Unwirksamkeit einer Verfügung nicht generell die Unwirksamkeit des gesamten Testaments zur Folge hat. Zu beachten sind die Sonderregeln der §§ 2270, 2298 BGB. Es ist folglich immer zu prüfen, ob mit den restlichen Verfügungen der Erblasserwille realisiert wird oder ob der Erblasser selbst ggf. worst-case-Regelungen getroffen hat.
Im Wege der ergänzenden Auslegung ist dem Erblasserwillen so weit wie möglich Geltung zu verschaffen (§ 2084 BGB). Es ist erforderlichenfalls festzustellen, was der Erblasser für den Fall angeordnet hätte, wenn er gewusst hätte, dass seine letztwillige Verfügung unwirksam ist. Grundsätzlich ist dabei zugrunde zu legen, dass
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nicht angreifbares Sondervermögen |
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zur Anhebung des Versorgungsniveaus des Bedachten über eine staatliche Grundversorgung hinaus |
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durch Belastungen und Beschwerungen |
dergestalt geschaffen werden sollte, dass das Vermögen nach dem Tod des Bedachten nicht der sozialrechtlichen Erbenhaftung unterfällt.
Rz. 255
Falllösung Fallbeispiel 97:
Der BGH hat im Falle eines Behindertentestamentes, das wie Fallbeispiel 88 ausgestaltet war (siehe Rdn 168), den Weg frei gemacht, um im Wege der Auslegung einen solchen Fehler zumindest teilweise "zu reparieren" und dem Vorerben auf jeden Fall das Recht der Erbschaft auf den zweiten Erbfall zu erhalten:
Eine Verwirkungsklausel ist unter Berücksichtigung ihres Sinnes im Gesamtzusammenhang des Testamentes einschränkend dahingehend auszulegen, dass die Eltern in Kenntnis der möglichen Folgen den Fall der Geltendmachung des Pflichtteilsanspruches nach dem erstverstorbenen Ehegatten durch die Sozialhilfeträger von dem Anwendungsbereich der Verwirkungsklausel ausgenommen hätte.
Die Klausel ist so auszulegen, dass das Kind, dessen Pflichtteil vom Sozialhilfeträger eingezogen wird, dennoch Erbe beim Schlusse...