Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 38
Wenn § 2020 BGB verbietet, den Vorerben völlig vom Nachlass fernzuhalten, und die Prämisse der Rechtsprechung des BGH auch heute noch ist, dass trotz der Beschränkungen und Beschwerungen des Erben durch das Behindertentestament etwas beim "Kind" mit Behinderung ankommen muss, dann muss man vorneweg feststellen, dass dieses Ziel in der Praxis in vielen Fällen gar nicht erreichbar ist. Schon die gesetzliche Konstruktion einer Vor- und Nacherbschaft unter Dauertestamentsvollstreckung wirkt wie ein Filter. Sie ist von vornherein nicht darauf angelegt, dass dem Vorerben sämtliche Nutzungen des Nachlasses uneingeschränkt "netto" und in Geld aus der Substanz zufließen bzw. bei ihm verbleiben:
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§ 2124 BGB ordnet an, dass der Vorerbe die gewöhnlichen Erhaltungskosten des Nachlasses trägt. Dazu gehören ohne weiteres die regelmäßigen Instandhaltungs- und Instandsetzungskosten. Es ist Aufgabe des Dauertestamentsvollstreckers, den sich daraus ergebenden Interessengegensatz zwischen Vor- und Nacherben zu berücksichtigen. Das kann in letzter Konsequenz bedeuten, dass der Vorerbe keine Verbesserung seiner Lebensstellung erfährt, weil er hinter dem Ziel "Erhaltung der Nachlasssubstanz für den Nacherben" zurücktreten muss. |
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Von den Nachlassmitteln müssen ggf. Betreuungs- und Betreuerkosten (vgl. § 10) bezahlt werden, insbesondere wenn sich die Notwendigkeit der Ergänzungsbetreuung ergibt |
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Von den Nachlassmitteln muss Erbschaftsteuer als Nachlassverbindlichkeit nach Maßgabe von §§ 3, 6 ErbStG bezahlt werden. |
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Von den Nachlassmitteln sind Auslagenersatz und Vergütung des Testamentsvollstreckers in Abzug zu bringen (§ 2221 BGB). |
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Die Auszahlung von Geld an den Betroffenen kommt generell nicht in Betracht, weil dieses Geld bei der nicht befreiten Vorerbschaft/Nacherbschaft regelmäßig Einkommen im Sinne der §§ 82 ff. SGB XII (auch bei Bedürftigentestamenten i.S.v. §§ 11 ff. SGB II) ist und mit den Schonvermögenstatbeständen des § 90 SGB XII (§ 12 SGB II) zum Schutz des Erben nicht argumentiert werden kann. |
Rz. 39
Wenn der Nachlass diese Hürden überhaupt nehmen kann, dann kann es relativ leicht passieren, dass die dem Vorerben zufließenden Vorteile gleichwohl gegen Null tendieren, wenn
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damit die verbleibende Nachlassbeteiligung praktisch ertraglos und der Testamentsvollstrecker nicht befugt ist, die Substanz anzugreifen, um die Versorgungssituation des Betroffenen zu bessern |
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die Nachlassbeteiligung einem anderen ohne Gegenleistung überlassen werden muss oder die Erträge an einen anderen abgeführt werden müssen |
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die Nachlassbeteiligung durch die weiteren Belastungen gegen Null tendierend ausgehöhlt wird, z.B. durch Anordnungen des Erblassers nach § 2324 BGB, mit denen die Pflichtteilslast abweichend von § 2320 Abs. 2 BGB dem Bedürftigen/Behinderten aufgebürdet wird. |
Rz. 40
Praktisch ertraglos sind reine Barvermögen in Zeiten, in denen für Barvermögen ab 100.000 EUR Strafzinsen erhoben werden und auch im Übrigen mitnichten Erträge aus Sparvermögen erwirtschaftet werden können. Die Literatur spricht von der Gefahr, dass ein Behindertentestament "implodiert" und zur "mission impossibel" wird. Zum Teil wird für die Gestaltung gefordert, dass der Nachlass (bei einer angenommenen Verzinsung von 2 –2,5 %) deutlich über 100.000 EUR liegen müsse, um den Gestaltungs- und Verwaltungsaufwand überhaupt zu rechtfertigen.
Möglicherweise stellen sich solche Überlegungen zur Sittenwidrigkeit eines Testamentes wegen zu geringen Nutzens aber auch gar nicht, weil der BGH das Recht des Vorerben zum Zugriff auf die Nachlasssubstanz als Ausweg weist:
Zitat
"Wenn die Leistungen, die der Testamentsvollstrecker nach dem Erbvertrag zugunsten der Behinderten zu erbringen hat, nicht aus den Nutzungen der Vorerbschaft bestritten werden können, dürfte der Testamentsvollstrecker jedoch wie für die Erfüllung anderer Nachlassverbindlichkeiten gem. §§ 2216, 2124 I 2 BGB berechtigt sein, Nachlassgegenstände zu veräußern. Die der Behinderten im Erbvertrag zugedachten Leistungen können insoweit (auch) als Vermächtnis gewertet werden, das die Nacherbschaft beschwert."
Rz. 41
Einzelne Autoren in der Literatur leiten daraus ab, dass die Befugnis des bedürftigen Vorerben zum Substanzzugriff als Vermächtnis/Vorausvermächtnis zu Lasten des Nacherben zulässig und ohne Weiteres im Wege der Auslegung herzuleiten sei. Andere Autoren empfehlen die Erlaubnis, zu Lasten des Nacherben auch auf die Nachlasssubstanz zugreifen zu dürfen, ausdrücklich in einem (Zustimmungs-)Vermächtnis zu regeln mit entsprechenden Verwaltungsanordnungen. Eine solche Verwaltungsanordnung sei sozialhilfefest. Allerdings dürfe die Verwaltungsanordnung nur zur Verbesserung des Lebensstandards, nicht aber zur Grundversorgung herangezogen werden. Zulässig sei eine solche Lösung auf jeden Fall, wenn der Testamentsvollstrecker auch für den Nacherben eingesetzt werde, aber auch ohne Nacherbentestamentsvollstreckung durch ergänzende Auslegung. Weidlich ge...