Rz. 87

Im Rahmen der Vollzeitpflege erhält der Minderjährige eine stationäre Hilfe zur Erziehung in einer anderen Familie,[253] wenn ein weiterer Verbleib in der Herkunftsfamilie, d.h. bei den Eltern, nicht möglich ist, da sie die Versorgung und Erziehung nicht mehr gewährleisten können. Die Eltern haben einen Rechtsanspruch auf die Hilfeleistung nach § 33 SGB VIII, wenn dadurch die bestehenden Defizite ausgeglichen werden können und niederschwelligere Hilfeleistungen nicht ausreichen.[254] Abzugrenzen ist die Vollzeitpflege dabei sowohl von der Adoptionspflege als auch von der Bereitschaftspflege. Allerdings kann die Vollzeitpflege auch in der Form einer Wochenpflege durchgeführt werden, so dass das Kind bzw. der Jugendliche sich jeweils an den Wochenenden bei seiner originären Familie aufhält.[255] Die jeweiligen örtlichen Träger der Jugendhilfe stehen in der Obliegenheit, in dem gebotenen Umfang Vollzeitpflegestellen anzubieten, wobei die Kostenbeteiligung der Minderjährigen und ihrer Eltern nach den §§ 91 ff. SGB VIII erfolgt.

 

Rz. 88

Sowohl die Eltern als auch das Kind haben bei der Auswahl der Pflegefamilie einen Mitwirkungsanspruch, der sich ggf. auch darauf richten kann, dass sie selbst eine Pflegeperson beschaffen können, soweit diese – falls erforderlich – eine Pflegerlaubnis nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB VIII besitzt. Davon unberührt bleiben aber die Obliegenheiten des Jugendamts, zunächst die Eignung der Pflegeperson im Rahmen des bestehenden Ermessens sicherzustellen,[256] – soweit dies nicht inzident bereits im Rahmen der Eignungsprüfung der Hilfeleistung selbst erfolgte – und zudem auch die Pflegeperson zu überwachen. Als Pflegeperson und damit "andere Familie" können Verwandte des Minderjährigen in Betracht kommen,[257] wie etwa die Großeltern,[258] soweit sie die notwendige Eignung besitzen.[259] Sind sie gleichzeitig gegenüber dem Minderjährigen unterhaltspflichtig, so kann dies gem. § 39 Abs. 4 SGB VIII zu einer Kürzung der an sie zu zahlenden Pflegepauschale führen. Aber auch ein etwaig bestellter Vormund oder Pfleger kommt für die Vollzeitpflege in Betracht,[260] wobei er die Kosten der Erziehung und des notwendigen Unterhaltes geltend machen kann.[261] Unbeschadet der Unterbringung des Minderjährigen in einer Vollzeitpflege verbleibt das Recht der Personensorge bei den Eltern. Die Pflegeperson ist lediglich im Rahmen des § 1688 BGB zur Ausübung der Personensorge berechtigt. Steht eine Vollzeitpflege für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei Verwandten in Rede, so stellen sich besondere jugendhilfe- und aufenthaltsrechtliche Fragen.[262]

 

Rz. 89

Das Gesetz sieht vor, dass die Vollzeitpflege in zeitlich unterschiedlichem Umfang erfolgen und geeignet[263] sein kann, d.h. entweder zeitlich befristet oder in einer auf Dauer angelegten Form. Eine kurzzeitige Pflege – auch in der Form einer Bereitschaftspflege – ist bei vorübergehenden Erziehungs- und Versorgungsausfällen bzw. akuten Notsituationen der Herkunftsfamilie angezeigt. Demgegenüber ist die dauerhafte Pflege auf Kontinuität angelegt. Die Entscheidung darüber, ob eine kurzzeitige oder langfristige Pflege begründet wird, ist jeweils einzelfallbezogen zu prüfen. Entscheidungskriterien sind neben dem Entwicklungsstand und dem Alter des Kindes auch die Prognose zu der künftigen Verbesserung der Bedingungen im Elternhaus. Die verbindliche Entscheidung darüber, welche Pflegeform begründet wird, treffen die Eltern. Kann zwischen ihnen ein Einvernehmen nicht erzielt werden, so bedarf es einer familiengerichtlichen Entscheidung. Hierbei ist zu beachten, dass die Eltern als Leistungsberechtigte der Hilfe nach § 33 SGB VIII jederzeit – soweit nicht von einer Gefährdung im Sinn der §§ 1666a BGB ausgegangen werden muss – die Vollzeitpflege des Kindes beenden können. In diesem Fall wird der der Vollzeitpflege zugrundeliegende Hilfeplan aufgehoben und das Kind ist von der Pflegefamilie an die Eltern herauszugeben. Hierbei kann sich die Frage stellen, ob die Herausgabe möglicherweise zu einer Kindeswohlgefährdung führt und gegebenenfalls eine familiengerichtliche Verbleibensanordnung gem. § 1632 Abs. 4 BGB von der Pflegefamilie herbeizuführen ist (vgl. hierzu § 4 Rdn 23 ff.).

 

Rz. 90

Für Kinder und Jugendliche mit besonderen Entwicklungsbeeinträchtigungen, etwa schweren Verhaltensstörungen, sieht § 33 S. 2 SGB VIII die Verpflichtung der Jugendämter vor, in stärkerem Maß Sonderpflegestellen anzubieten, die z.B. in Form von heilpädagogischen oder sozialpädagogischen Pflegestellen geführt werden können. Sie zeichnen sich durch eine besondere therapeutische Betreuung der Kinder und Jugendlichen aus. Während im Rahmen der sonstigen Vollzeitpflege von den Pflegepersonen keine spezifische Ausbildung eingefordert wird,[264] setzen Sonderpflegestellen eine solche fachliche Qualifikation der Pflegeperson voraus.

[253] Vgl. hierzu umfassend Salgo, ZKJ 2015, 357.
[254] EuGHMR, FamRZ 2000, 1353.
[255] Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, § 33 Rn 1.
[256] OVG Niedersachsen JAm...

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