Inga Leopold, Dr. iur. Jürgen Peter
Rz. 179
Hat der Arbeitgeber den Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung zwar angehört, zeigt sich jedoch im Rahmen des Kündigungsschutzprozesses, dass die aus der Sicht des Arbeitgebers dem Betriebsrat mitgeteilten Gründe nicht ausreichen, um die objektiven Voraussetzungen des Kündigungsgrunds zu erfüllen, dann greift in Abhängigkeit von der konkreten Einzelfallsituation als Rechtsfolge zu Lasten des Arbeitgebers ein betriebsverfassungsrechtliches Verwertungsverbot hinsichtlich "nachzuschiebender" Kündigungsgründe ein. Geht man dabei zunächst davon aus, dass der Arbeitnehmer in Kenntnis der neuen Kündigungsregeln aus Gründen anwaltlicher Vorsorge alle Unwirksamkeitsgründe innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigungserklärung, spätestens über § 6 KSchG bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung I. Instanz geltend macht, dann ist im Übrigen hinsichtlich “nachzuschiebender“ Kündigungsgründe wie folgt zu unterscheiden:
Rz. 180
Lagen die Kündigungsgründe vor Zugang der Kündigungserklärung vor und waren sie dem Arbeitgeber bekannt, dann kann der Arbeitgeber sich materiell hierauf berufen. Die Berufung auf diese Kündigungsgründe scheitert jedoch als Sanktion für die Nichtanhörung des Betriebsrats insoweit aus betriebsverfassungsrechtlichen Gründen daran, dass die Nichtmitteilung vorhandener und bekannter Kündigungsgründe zu einem betriebsverfassungsrechtlichen Verwertungsverbot führt. Der Arbeitgeber hätte den Betriebsrat auch zu diesen Gründen anhören müssen, wenn er die Kündigung hierauf stützen will. Hat er dies – etwa wegen seiner subjektiven Determination – unterlassen, ist er nun gehindert, diese (objektiv vorliegenden Gründe) im Kündigungsprozess zu verwenden bzw. nachzuschieben. Dies sei an einem pointierten Beispiel verdeutlicht.
Rz. 181
Beispiel
Ein Arbeitgeber, der einem Arbeitnehmer verhaltensbedingt kündigen will, bei dem bereits zwei (objektiv richtige und formwirksame) Abmahnungen vorliegen, will seinen Kündigungsentschluss deshalb nicht auf die Abmahnungen stützen, weil nach seiner subjektiven Einschätzung der jüngste verschuldete Pflichtverstoß des Arbeitnehmers so gravierend ist, dass dies zwar nicht zur außerordentlichen, aber "nach seiner festen Überzeugung sicher" für eine ordentliche Kündigung "reicht". Daher teilt er bei der Anhörung dem Betriebsrat die Abmahnungen nicht mit, erfüllt im Übrigen aber seine Mitteilungspflichten ordnungsgemäß. Nach Abschluss des Anhörungsverfahrens durch Fristablauf spricht der Arbeitgeber dann die ordentliche fristgerechte Kündigung aus. Im Kündigungsschutzprozess macht der Arbeitnehmer geltend, die Kündigung sei schon deshalb unwirksam, weil er vorher nicht wirksam abgemahnt worden sei. Der Arbeitgeber tritt dieser Behauptung unter Vorlage der beiden Abmahnungen entgegen – und: verliert den Kündigungsschutzprozess.
Der Prozess geht allerdings nicht verloren, weil die Kündigung nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam ist. Dies ist sie nicht. Unterlässt der Arbeitgeber die Mitteilung der Abmahnungen, weil er diese bei seiner Kündigungsentscheidung nicht berücksichtigt hat, dann scheitert die Kündigung nicht an § 102 Abs. 1 BetrVG, denn die Anhörung erfolgte ordnungsgemäß, da der Arbeitgeber dem Betriebsrat die Gründe mitgeteilt hat, auf die er seine Kündigungsabsicht gegründet hat. Das Problem besteht nur darin, dass es dem Arbeitgeber verwehrt ist, sich im Kündigungsschutzverfahren auf die dem Betriebsrat nicht mitgeteilten Abmahnungen als Wirksamkeitsvoraussetzung für die verhaltensbedingte Kündigung zu berufen. Ist aber nach den Maßstäben des § 1 Abs. 2 KSchG, wie regelmäßig, bei der verhaltensbedingten Kündigung mindestens eine Abmahnung erforderlich, scheitert die Kündigung dann trotz Vorliegen der Abmahnungen daran, dass sich der Arbeitgeber wegen des betriebsverfassungsrechtlichen Verwertungsverbots auf diese Abmahnungen im Kündigungsschutzprozess nicht berufen darf.
Rz. 182
Lagen die Kündigungsgründe, auf die der Arbeitgeber sich im Kündigungsschutzprozess stützen möchte, vor Zugang der Kündigungserklärung objektiv vor, waren sie dem Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt aber unbekannt, dann kann der Arbeitgeber sich zur Begründung der Kündigung auf diese Gründe berufen. Die Berufung auf diese Gründe scheitert aber (zunächst) jedoch wiederum daran, dass der Betriebsrat (bisher) zu diesen Gründen nicht angehört wurde, mit der Folge, dass (zunächst) das betriebsverfassungsrechtliche Verwertungsverbot eingreift. Holt der Arbeitgeber allerdings die (bisher) fehlende Anhörung (jetzt) nach, dann kann er sich nach Abschluss dieser nachgeholten Anhörung auf die (objektiv zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung vorliegenden) Gründe (nunmehr) berufen, sie also im Prozess verwerten.
Rz. 183
Das betriebsverfassungsrechtliche Verwertungsverbot greift allerdings dann nicht ein, wenn es sich bei den "neuen" Kündigungsargumenten des Arbeitgebers nicht um "Kündigungsgründe", sondern es sich lediglich um eine Erhellung, Erläuterung oder Konk...