Dr. Michael Nugel, Dipl.-Ing. André Schrickel
Rz. 53
Wenn der Sachverständige den Gutachtenauftrag erhalten hat, verläuft die Ausarbeitung unabhängig von der konkreten Aufgabenstellung nach den gleichen Grundsätzen. Es wird das zur Verfügung stehende Material auf die darin enthaltenen Anknüpfungspunkte für die Rekonstruktion des Unfallgeschehens geprüft.
Rz. 54
Das umfangreichste Material steht natürlich dann zur Verfügung, wenn der Sachverständige selbst den Unfall aufgenommen hat. In diesem Fall bieten sich auch zusätzliche Auswertemöglichkeiten. Die sichergestellten Fahrzeuge können nachbesichtigt werden. Dabei ist es unter Umständen möglich, die im Fahrzeug verbauten Steuergeräte auszulesen und aus diesem Datenmaterial zusätzliche Informationen zum Unfallgeschehen zu gewinnen. In den Steuergeräten werden physikalische Kenngrößen wie z.B. Drehzahl, Geschwindigkeiten, Beschleunigungen usw., die über Sensoren erfasst werden, mit hinterlegten Sollgrößen verglichen und gegebenenfalls nachgeregelt. Bei Störungen, wie z.B. durch einen Unfall, werden sie gespeichert. Diese Größen stellen aber nur Anknüpfungspunkte dar, wie z.B. Reifenspuren und Fahrzeugschäden. Sie müssen vom Sachverständigen erst noch interpretiert werden.
Rz. 55
Insbesondere bei Ausarbeitung nach Aktenlage bildet das nach dem Unfall angefertigte Fotomaterial die wesentlichste Grundlage. Aus diesen Fotos gehen die örtlichen Gegebenheiten, die Fahrzeugschäden, vorhandene Spuren usw. hervor. Es handelt sich dabei um objektive Anknüpfungspunkte, weil sie durch die Lichtbilder unverfälscht dokumentiert sind. Sie haben deswegen für die technische Analyse ein größeres Gewicht als die Angaben der Unfallbeteiligten und Zeugen. Unfallbeteiligte treten im Prozess als Partei auf. Es kann deshalb nicht vorausgesetzt werden, dass ihre Angaben unparteiisch erfolgen. Zeugen nehmen oftmals nur einen Teil des Unfallgeschehens wahr. Selbst wenn sie dasselbe gesehen haben, ist es selten, dass zwei Zeugen die gleichen Wahrnehmungen schildern.
Rz. 56
Erfolgt die Ausarbeitung nach vorliegendem Aktenmaterial, lässt sich leider sehr oft feststellen, dass die für die Rekonstruktion erforderlichen Anknüpfungspunkte oftmals nicht enthalten sind. D.h., vom Gericht werden zwar Beweisfragen formuliert, es wird allerdings oftmals nicht überprüft, ob die dafür zur Verfügung stehenden Anknüpfungspunkte bereits in der Akte vorliegen. Wesentliche Informationen zum Unfallgeschehen gehen in der Regel aus der Polizeiakte oder der Bußgeld- bzw. Strafakte hervor. Darin sind oftmals auch Bilder der Polizei und Verkehrsunfallskizzen enthalten. Dieses Material, was in der Regel von den Prozessparteien bereits als Beweismittel beantragt wird, sollte also vor Übersendung der Zivilakte für die Ausarbeitung des Gutachtens dem Sachverständigen auch direkt zur Verfügung gestellt werden. Es ist auch darauf zu achten, dass die in der Akte meist als Kopien enthaltenen Fotos schon als Originale angefordert und an den Sachverständigen weitergeleitet werden. Vor allem hinsichtlich der neuerdings direkt bei Auftragserteilung gesetzten Fristen ist dies eine sehr wichtige Voraussetzung, damit der Sachverständige direkt nach Eingang der Akte auch tätig werden kann und nicht erst gezwungen ist, dass fehlende Material bei den Prozessparteien, der Polizei oder den Schadengutachtern anzufordern.
Rz. 57
Der Sachverständige muss offenlegen, welche Anknüpfungspunkte ihm zur Verfügung standen und wie er sie verwertet hat. Das Ergebnis des Gutachtens muss mit den zur Verfügung stehenden objektiven Anknüpfungspunkten im Einklang stehen. Widersprüche zu den Angaben der Zeugen und Prozessparteien sind demgegenüber in der Regel unvermeidlich, weil die Parteien im Normalfall das Unfallgeschehen gegensätzlich schildern.
Rz. 58
Im Gutachten dürfen nicht nur die gewonnenen Ergebnisse wiedergegeben werden. Es muss auch der dahin führende Lösungsweg offengelegt werden. Die Nachvollziehbarkeit eines Gutachtens wird durch die Visualisierung in Form von Fotos, Grafiken, Diagrammen o.ä. deutlich vereinfacht. In der Unfallrekonstruktion hat sich die Verwendung von Vergleichsversuchen bewährt. Anhand der in Versuchen auftretenden Fahrzeugbeschädigungen lassen sich die Berechnungsergebnisse sehr gut auf ihre Plausibilität überprüfen, ohne dass die physikalischen Zusammenhänge dafür bekannt sein müssen. Der Jurist sollte dabei immer vor Augen haben, dass es dem Sachverständigen in der Regel nicht möglich ist, die konkreten Unfallfahrzeuge für solche Versuche zu verwenden. Der dafür erforderliche Kostenaufwand steht meistens im Widerspruch zum Streitwert des Prozesses.
Rz. 59
Die Berechnungsergebnisse in einem Gutachten basieren nicht allein auf den zur Verfügung stehenden objektiven Anknüpfungspunkten, sondern auch auf Annahmen, die der Sachverständige trifft. Beispielsweise lässt sich die Länge einer Bremsspur im Foto erkennen. Der auf dieser Bremsstrecke erzielte Geschwindigkeitsverlust ist aber davon abhängig, welche Verzögerung gewirkt hat. Diese Verzögerungen wurden durch B...