Dr. Michael Nugel, Dipl.-Ing. André Schrickel
Rz. 95
Liegt das Sachverständigengutachten vor, stellt sich für den Juristen die Frage, wie er dieses zu würdigen hat und wie ggf. die Aussage eines Gutachtens überprüft oder gar der Sachverständige selber angegriffen bzw. die Einholung eines neuen Gutachten veranlasst werden kann.
I. Würdigung des Gutachtens
Rz. 96
Nachdem das Gutachten seitens des Sachverständigen erstattet wurde, sei es schriftlich oder im Rahmen einer mündlichen Verhandlung, beginnt für die Prozessbevollmächtigten (jedenfalls für einen von beiden) erst richtig die Arbeit. Insbesondere wenn das Gutachten nämlich zulasten der eigenen Partei ausfällt ist zu überprüfen, ob die darin getroffenen Ergebnisse zutreffen oder ob noch eine Möglichkeit besteht, das Gutachten anzugreifen.
Rz. 97
Insoweit ist auch zu beachten, dass auch ein Sachverständigengutachten nach § 286 Abs. 1 ZPO der freien Beweiswürdigung des Gerichts unterliegt, d.h. der Tatrichter ist nicht an das Ergebnis der Begutachtung gebunden. In der Praxis wird dies, insbesondere bei einem Verkehrsunfall, selten der Fall sein, zumal eine entsprechende Abweichung vom Ergebnis des Gutachtens seitens des Tatrichters besonders begründet werden muss. Dennoch sollte auch in dem Fall, dass das Gutachten zugunsten der eigenen Partei ausfällt, überprüft werden, ob die Feststellungen des Sachverständigen nachvollziehbar und schlüssig erscheinen, um ggf. durch eigene Nachfragen eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen zu bestimmten Punkten herbeizuführen.
1. Stellungnahmefrist
Rz. 98
Sollte das Gutachten schriftlich erstattet worden sein, so wird das Gericht mit der Übersendung dieses Gutachtens an die Parteien i.d.R. gem. § 411 Abs. 4 i.V.m. § 296 ZPO eine Frist setzen, binnen derer die Parteien zu dem Ergebnis des Gutachtens Stellung nehmen können.
Ebenso besteht nach einer mündlichen Gutachtenerstattung die Möglichkeit, eine Schriftsatzfrist zu beantragen, um zu dem Ergebnis der Begutachtung Stellung nehmen zu können.
2. Antrag auf Ergänzungsgutachten bzw. mündliche Erläuterung des Gutachtens
Rz. 99
Sollte sich bei der Überprüfung des eingeholten Gutachtens zeigen, dass der Sachverständige entweder eine in dem zugrunde liegenden Beweisbeschluss aufgestellte Beweisfrage nicht oder nicht hinreichend beantwortet hat, oder sogar ein inhaltlicher Fehler in dem Gutachten auftauchen, so besteht innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist die Möglichkeit, Einwendungen gegen das Gutachten zu erheben und eine ergänzende Begutachtung durch den Sachverständigen zu beantragen.
Diese ergänzende Begutachtung kann entweder (erneut) schriftlich erfolgen, was sich insbesondere bei umfangreicheren Einwänden oder komplexen Sachverhalten anbietet, oder aber das Gericht kann den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens laden (§ 411 Abs. 3 ZPO).
Rz. 100
Die Entscheidung des Gerichts zur Anordnung der mündlichen Erläuterung des Gutachtens liegt grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Allerdings ist das Ermessen des Gerichts dahingehend gebunden, dass es alle vorhandenen Aufklärungsmöglichkeiten zur Beseitigung von Zweifeln und Unklarheiten des Gutachtens ausschöpfen muss, wozu insbesondere eine mündliche Erläuterung des Gutachtens gehört.
Rz. 101
Unabhängig von der dem Gericht nach § 411 Abs. 3 ZPO eingeräumten Möglichkeit der Anordnung einer mündlichen Erläuterung des Gutachtens muss das Gericht auf Antrag einer Partei hin den Sachverständigen zur mündlichen Anhörung laden, auch wenn das Gericht selbst keinen weiteren Erläuterungsbedarf sieht (§§ 402, 397 ZPO).
Rz. 102
Wenn eine mündliche Erläuterung des Gutachtens beantragt wird, ist es insoweit auch nicht erforderlich, die dem Sachverständigen zu stellenden Fragen vorab konkret mitzuteilen, sondern es genügt, wenn dargelegt wird, in welche Richtung der Wunsch zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts geht. Eine genauere Eingrenzung bzw. das Stellen konkreter Nachfragen ermöglicht es dem Sachverständigen jedoch, sich konkret auf diese Frage einzustellen und vorzubereiten, so dass je nach Einzelfall entschieden werden sollte, ob die Ergänzungsfragen bereits schriftlich oder doch erst im Termin gestellt werden sollen.
Rz. 103
Muster 12.9: Keine Pflicht zur Ausformulierung von Ergänzungsfragen an den Sachverständigen
Muster 12.9: Keine Pflicht zur Ausformulierung von Ergänzungsfragen an den Sachverständigen
Wir weisen nur vorsorglich darauf hin, dass sich die konkret an den Sachverständigen zu stellenden Fragen aus dem Ablauf der mündlichen Verhandlung ergeben werden. Es ist jedenfalls nicht erforderlich, die Fragen vorab konkret mitzuteilen, sondern ausreichend darzulegen, in welcher Richtung der Wunsch zur weiteren Aufklärung geht (ständige Rechtsprechung – siehe nur BGH, Beschl. v. 10.7.2018 – VI ZR 580/15 = NJW 2018, 3097; BGH, Urt. v. 5.9.2006 – VI ZR 176/05 = NJW-RR 2007, 212).