Rz. 138
Kern der VVG-Reform 2008 war der Wegfall des "Alles-oder-Nichts-Prinzips" und die Einführung eines (quotalen) Leistungskürzungsrechts des Versicherers bei grob fahrlässig begangenen Vertragsverstößen des Versicherungsnehmers.
I. Anwendungsfälle
Rz. 139
Das mit der VVG-Reform 2008 eingeführte neue Leistungskürzungsrecht findet im Falle der groben Fahrlässigkeit Anwendung in folgenden Fällen:
II. Ausgestaltung des Leistungskürzungsrechts
1. Gesetzliche Grundlagen
Rz. 140
Der Gesetzgeber hat in den vorstehend genannten Vorschriften lediglich gesetzlich geregelt, dass der Versicherer berechtigt ist, "seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen". Er überlässt die Herausbildung geeigneter Kriterien und Abgrenzungsmerkmale vollständig der Rechtsprechung.
Rz. 141
In der Gesetzesbegründung findet sich lediglich der (nahe liegende) Hinweis, dass für die Bemessung der Leistungskürzung entscheidend sei, ob sich die grobe Fahrlässigkeit im Einzelfall nahe beim bedingten Vorsatz (dann stärkere Kürzung) oder eher im Grenzbereich zur einfachen Fahrlässigkeit (dann geringere Kürzung) befinde (BReg., BT-Drucks 16/3945, S. 69).
Rz. 142
Erfahrungen mit entsprechenden Regelungen bestehen nur aufgrund des Schweizerischen VVG, welches allerdings die Leistungskürzung nur in der Fallgruppe der Herbeiführung des Versicherungsfalls vorsieht.
Rz. 143
Daher wird tatsächlich erst die Rechtsprechung die erforderliche Rechtssicherheit schaffen können. Allerdings bedeutet dies für den Anwalt, dass er in den ersten Jahren bis zur Herausbildung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung besonders gefordert sein wird. Denn erst durch die entsprechenden Fälle sowie die jeweiligen Argumentationen der die Interessen der Parteien vertretenden Anwälte wird eine Rechtsprechung ermöglicht. Insoweit sind der Kreativität der anwaltlichen Argumentation keine Grenzen gesetzt, um die Rechtsfortbildung zu beeinflussen.
2. Quotenabstufung
a) Grobe Abstufungen
Rz. 144
Weitestgehende Einigkeit herrscht darüber, dass die Quoten in groben, größeren Schritten gebildet werden sollen, da anderenfalls eine mathematische Genauigkeit suggeriert würde, die tatsächlich nicht zu erzielen ist. So wird überwiegend eine Aufteilung in Drittel, Viertel und Fünftelschritten vorgeschlagen (Langheid/Rixecker, VVG, 6. Auflage 2019, § 28 Rn 78; Rixecker, zfs 2007, 15, 16; Felsch, r+s 2007, 485 ff.; "Goslarer Orientierungsrahmen", zfs 2010, 12; a.A. 10-%-Schritte für § 81 Abs. 2 VVG: OLG Hamm r+s 2010, 506; LG Hannover VersR 2010, 112), die auch sachgerecht sein dürfte. Das bedeutet eine Mindestkürzung um 20 % und entspricht damit der Praxis der Haftungsquoten beim Verkehrsunfall, bei denen auch regelmäßig keine geringere Mithaftungsquote als 20 % berücksichtigt wird.
b) Kürzung auf Null bzw. Kürzung um Null?
Rz. 145
Ob der Begriff der Leistungskürzung auch die Möglichkeit einschließt, dass der Leistungsanspruch vollständig auf Null gekürzt wird, lässt sich sprachlich unterschiedlich bewerten.
Rz. 146
Von der Systematik des neuen VVG betrachtet spricht einiges dafür, dass eine Kürzung im Gegensatz zur vollen Leistung (bei einfacher Fahrlässigkeit) und zur vollständigen Leistungsfreiheit (bei Vorsatz) nicht zu einer 0 %- oder 100 %-Quote führen kann, da diese beiden Leistungsquoten den anderen Verschuldensformen vorbehalten sind. Nach der Gesetzessystematik ist bei grober Fahrlässigkeit eine Leistung vorgesehen, welche – ebenso wie das Verschulden – zwischen den beiden für die Verschuldensformen Vorsatz und einfache Fahrlässigkeit vorgesehenen Leistungen liegt.
Rz. 147
Dennoch wird allgemein davon ausgegangen, dass in besonderen Fällen auch 100:0-Fälle möglich sind, also eine Leistungskürzung zur vollständigen Leistungsfreiheit führen kann (Rixecker, zfs 2007, 15, 16; Felsch, r+s 2007, 485 ff.; Römer, VersR 2006, 740, 741; Stahl, in: Burmann/Heß/Stahl/Höke, S. 77 Rn 234 sowie die Empfehlung Nr. 4 des AK IV des 46. Deutschen Verkehrsgerichtstages 2008 und der "Goslarer Orientierungsrahmen", zfs 2010, 12). Diese Auffassung ist inzwischen vom BGH bestätigt worden (BGH v. 22.6.2011 – IV ZR 225/10 – VersR 2011, 1037 = NZV 2011, 597; BGH v. 11.1.2012 – IV ZR 251/10 – VersR 2012, 341). Soweit Felsch (r+s 2007, 485 ff.) allerdings argumentiert, eine Quote von 99:1 sei ja in jedem Fall möglich und es handele sich um eine bloße Förmelei, die Nullquote nicht zuzulassen, ist dem entgegenzuhalten, dass – auch nach der Ansicht von Felsch – lediglich grobe Schritte von maximal Fünfteln vorzunehmen sind. Zwischen der danach maximal denkbaren Quote von 80:20 und 100:0 besteht jedoch ein erheblicher Unterschied, der nicht lediglich einer Förmelei gleicht.
Rz. 148
Die Kürzung auf Null lässt sich allerdings allenfalls dann rechtfertigen, wenn umgekehrt auch in außergewöhnlich leichten Fällen der groben Fahrlässigkeit (was auch immer das sein mag) 0:100-Fälle möglich sind, es ...