Dr. iur. Karl-Peter Pühler
Rz. 36
Grundlage des allgemeinen WBA ist nach der Rspr. eine Konkretisierung der Grundsätze von Treu und Glauben; es ist also eine Abwägung der beiderseitigen Interessen vorzunehmen. Während bei einem ungekündigten Arbeitsverhältnis das Interesse des Arbeitnehmers an seiner Beschäftigung schwerer wiegt als dasjenige des Arbeitgebers an einer Suspendierung, ändert sich mit Ausspruch einer Kündigung und Ablauf der Kündigungsfrist diese Interessenlage. Der Gesetzgeber hat den eintretenden Schwebezustand nach Ausspruch der Kündigung und nach Erhebung der Kündigungsschutzklage anerkannt. Eine erneute Interessenänderung tritt daher nur dann ein, wenn ein obsiegendes Urteil im Kündigungsrechtsstreit vorliegt. Dementsprechend ergibt sich Folgendes.
a) Zeitraum nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum ersten der Kündigungsschutzklage stattgebenden Urteil
Rz. 37
In dem Zeitraum nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum ersten der Kündigungsschutzklage stattgebenden Urteil besteht als Regel der allgemeine WBA des Arbeitnehmers nicht. Es überwiegt insoweit das Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung. Eine Ausnahme besteht dann, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist oder der Arbeitnehmer ein besonderes schutzwürdiges Interesse an der tatsächlichen Beschäftigung hat.
b) Zeitraum nach stattgebendem Instanzurteil bis zu einem abweisenden Instanzurteil oder bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss
Rz. 38
In dem Zeitraum nach stattgebendem Instanzurteil bis zu einem abweisenden Instanzurteil oder bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss ist als Regel der allgemeine WBA des Arbeitnehmers zu bejahen.
Rz. 39
Nur ausnahmsweise dann, wenn besondere schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers gegeben sind, kann das Interesse des Arbeitgebers an einer Nichtbeschäftigung überwiegen. Als derartige Ausnahmefälle kommen auch Gründe in Betracht, die den Arbeitgeber während des Bestands eines ungekündigten Arbeitsverhältnisses berechtigen, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen. Ferner überwiegen die Interessen des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung bei fehlender Möglichkeit zur tatsächlichen Beschäftigung, Wegfall der Vertrauensgrundlage oder einer möglichen Gefährdung von Betriebsgeheimnissen. Entsprechend ist zu entscheiden, wenn der Arbeitgeber im Kündigungsschutzprozess eines leitenden Angestellten einen zulässigen Auflösungsantrag gestellt und Tatsachen vorgetragen hat, die seine Interessen an der Nichtbeschäftigung überwiegen lassen.
c) Zeitraum nach klageabweisendem Instanzurteil bis zu einem stattgebenden Urteil oder bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss
Rz. 40
In dem Zeitraum nach klageabweisendem Instanzurteil bis zu einem stattgebenden Urteil oder bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss besteht als Regel der allgemeine WBA nicht. Als Ausnahmetatbestand kann hier nur eingreifen, dass dem Arbeitnehmer ein besonderes schutzwürdiges Interesse an tatsächlicher Beschäftigung zuzubilligen ist.
d) Abwägung bei offensichtlich unwirksamer Kündigung
Rz. 41
Wenn eine Kündigung offensichtlich unwirksam ist, besteht nach Auffassung des BAG kein ernstzunehmender Zweifel am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses. In diesen Fällen kann nach der Rspr. ein Interesse des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer für die Dauer des Verfahrens nicht weiter zu beschäftigen, grundsätzlich nicht anerkannt werden. Insoweit ist zu beachten, dass von der Rspr. das Tatbestandsmerkmal "offensichtlich unwirksame Kündigung" sehr eng definiert wird. Eine solche liegt nur dann vor, wenn sich bereits aus dem unstreitigen Sachverhalt die Unwirksamkeit aufdrängt, also offen erkennbar ist. Derartige Fälle sind selten. Eine entsprechende Unwirksamkeit ist z.B. dann zu bejahen, wenn die Kündigung unstreitig bei Bestehen eines zuständigen Betriebsrats ohne dessen Anhörung erfolgt ist oder bei unstreitigem Erfordernis einer behördlichen Zustimmung, diese ebenfalls unstreitig nicht eingeholt wurde. Ferner ist der Tatbestand bei einem offenkundigen Verstoß gegen § 623 BGB zu bejahen. Ist eine Kündigung in diesem Sinne offensichtlich unwirksam, dann besteht der WBA mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist bzw. bei der außerordentlichen fristlosen Kündigung mit deren Zugang.
e) Abwägung bei besonderem Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers
Rz. 42
Macht der Arbeitnehmer ein besonderes Beschäftigungsinteresse geltend, dann muss er rechtlich erhebliche Interessen darlegen, die die pauschale Interessenabwägung des BAG als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen. Es muss also zur Überzeugung des Gerichts vorgetragen werden, ggf. glaubhaft gemacht bzw. bewiesen werden, dass das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers bereits im Zeitraum vor einem ersten Urteil im Kündigungsschutzprozess das grundsätzlich zu bejahende Interesse des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen, überwiegt. Entsprechendes gilt nach einem klageabweisenden Urteil. Nach der Entscheidung des BAG werden hierfür nur sehr seltene Ausnahmefälle in Betracht kommen. Der Arbeitnehmer hat Umstände anzuführen und ggf. glaubhaft zu machen bzw. zu beweisen, die über das generelle Beschäftigungsinteresse im ungekündigten Arbeitsverhältnis hinausgehen. In diesem Zusammenhang sind Situationen zu benennen, in denen durch die Nichtweiterbeschäftigung die Erhaltung oder Erlangung einer besonderen beruflichen Qualifikation ernstlich