Rz. 344
Bis zur Deregulierung des deutschen Versicherungsmarktes am 29.7.1994 waren die AVB Bestandteil des genehmigungspflichtigen Geschäftsplans. Als solche bedurften sie der Genehmigung durch das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BAV; jetzt: Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht). Ein Rückkaufswert war nach §§ 173, 176 Abs. 1, 3 VVG a.F. bei Kündigung dann geschuldet, wenn der Beitrag für mindestens drei Jahre gezahlt war. Der Rückkaufswert entsprach der Prämienreserve abzgl. eines angemessenen Betrags (§ 176 Abs. 1, Abs. 4 VVG a.F.). Gemäß Art. 10 § 6 S. 1 Drittes Durchführungsgesetz/EWG zum VAG sind diese Regelungen auf vor dem 29.7.1994 abgeschlossene Lebensversicherungsverträge weiter anzuwenden. Dies gilt auch für Lebensversicherungsverträge, die bis zum 31.12.1994 unter Verwendung vor dem 29.7.1994 genehmigter AVB geschlossen wurden (Art. 10 § 6 S. 2 Drittes Durchführungsgesetz/EWG zum VAG). Im Hinblick auf die Berechnung des Rückkaufswertes enthielten die Musterbedingungen für die Kapitalbildende Lebensversicherung (ALB 1986) in § 4 Abs. 3 lediglich einen Verweis auf den Geschäftsplan ("Nach Kündigung erhalten Sie – soweit vorhanden – die nach unserem Geschäftsplan berechnete Rückvergütung."). Das BAV hat bei Geschäftsplänen für Lebensversicherungen ab 1986 die Genehmigung davon abhängig gemacht, dass der Geschäftsplan eine Mindestrückvergütung auch in den ersten drei Vertragsjahren vorsah.
Rz. 345
Für die vor dem 29.7.1994 bzw. bis zum 31.12.1994 unter Verwendung vor dem 29.7.1994 genehmigter AVB abgeschlossenen Lebensversicherungsverträge gilt im Hinblick auf die Berechnung des Rückkaufswertes die alte Rechts- und Gesetzeslage fort. Die AVB aus dieser Zeit unterliegen keiner AGB-Kontrolle durch die Gerichte. Vielmehr gilt der Grundsatz der materiellen Staatsaufsicht. Danach werden die Interessen der Versicherungsnehmer allein öffentlich-rechtlich durch die vorherige Genehmigung von AVB und Geschäftsplan gewahrt. Es besteht kein Anspruch auf einen Mindestrückkaufswert auf Basis der Urteile des BGH v. 9.5.2001. Ebenfalls besteht kein Anspruch auf einen Mindestrückkaufswert nach § 169 Abs. 3 VVG. Art. 4 Abs. 2 EGVVG stellt insofern klar, dass sich die Berechnung des Rückkaufswertes bei Altverträgen weiterhin nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des VVG 2008 richtet.
Rz. 346
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 15.2.2006. Das BVerfG hat in diesem Beschluss die Verfassungsbeschwerde eines Versicherungsnehmers nicht zur Entscheidung angenommen, in der es um die Rechtmäßigkeit der Abschlusskostenklausel eines Lebensversicherungsvertrages des regulierten Altbestands (Vertragsschluss vor dem 30.7.1994) ging. Die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wurde wie folgt begründet:
Zitat
"Durch die Rechtsprechung hat sich die zurzeit geltende vertragsrechtliche Lage zugunsten der vermögensrechtlichen Ansprüche von Versicherungsnehmern in der Position des Beschwerdeführers maßgeblich verändert. Diese Änderung hat das BVerfG bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob die grundsätzliche Bedeutung der Verfassungsbeschwerde trotz Ersetzung des seinerzeit geltenden Rechts durch eine Neuregelung fortbesteht."
Rz. 347
Im Übrigen entschied das BVerfG, dass dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten seien und begründete dies wie folgt:
Zitat
"Die mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen von Verfassungsverletzungen waren auch im Wesentlichen zutreffend."
Anhand vorstehender Zitate könnte man zu dem Ergebnis gelangen, dass aufgrund des Nichtannahmebeschlusses nunmehr auch bei Verträgen des regulierten Altbestands (Vertragsschluss vor dem 29.7.1994 bzw. 1.1.1995) ein Anspruch auf einen Mindestrückkaufswert bzw. eine beitragsfreie Mindestversicherungssumme entsprechend der Urteile des BGH vom 12.10.2005 besteht. Wie Grote in seinen Anmerkungen zum Beschluss des BVerfG vom 15.2.2006 umfassend begründet hat, ist dieses Ergebnis unzutreffend.
Rz. 348
Gegen eine Übertragung der Entscheidungen des BGH vom 12.10.2005 auf den regulierten Altbestand (Vertragsschluss vor dem 29.7.1994 bzw. 1.1.1995) spricht zunächst, dass diesen Verträgen andere Bedingungen zugrunde liegen als diejenigen, die Gegenstand der BGH-Urteile v. 9.5.2001 waren. Im Übrigen gab es für die Verträge des regulierten Altbestands die gesetzliche Regelung, dass erst dann ein Anspruch auf den Rückkaufswert bestünde, wenn die Prämie für einen Zeitraum von drei Jahren gezahlt wurde (§ 173 VVG a.F.). Für einen Mindestrückkaufswert bzw. eine beitragsfreie Mindestversicherungssumme gem. den Urteilen des BGH vom 12.10.2005 ist vor dem Hintergrund dieser eindeutigen gesetzlichen Regelung kein Raum. Darüber hinaus fehle es aufgrund der gesetzlichen Regelung in § 173 VVG a.F. bereits an der für eine ergänzende Auslegung notwendigen Gesetzeslücke. Für den Zeitraum nach Ablauf der ersten drei Vertragsjahre verwiesen die AVB des regulierten Altbestands auf die nach dem genehmi...