Rechtsmissbrauch bei Widerruf eines Lebensversicherungsvertrages
Nach der Entscheidung des VGH Rheinland-Pfalz verletzt ein Gericht das grundgesetzlich garantierte Recht einer Prozesspartei auf den gesetzlichen Richter, wenn es von der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH ohne hinreichende Begründung absieht, obwohl die Auslegung einer für den Rechtsstreit maßgeblichen EU-Richtlinie durch den EuGH nicht geklärt ist. In einem solchen Fall ist der EuGH der gesetzliche Richter.
Widerruf eines Lebensversicherungsvertrages Jahre nach Abwicklung
Der Beschwerdeführer hatte im Jahr 2016 seinen Widerspruch zu einem 2002 abgeschlossenen Lebensversicherungsvertrag, der bereits im März 2012 vollständig abgewickelt war, erklärt. Er stützte den Widerspruch auf eine fehlerhafte Belehrung zum Widerrufsrecht sowie auf weitere unzureichende Verbraucherinformationen durch die Versicherungsgesellschaft bei Abschluss des Versicherungsvertrages.
LG bewertete Widerspruch als rechtsmissbräuchlich
Das LG Trier wies die Klage auf Rückabwicklung des Versicherungsvertrages und auf Rückzahlung einer Beitragssumme in Höhe von 17.319,51 Euro ab. Ob die Belehrung über den Widerspruch als solche ordnungsgemäß war, ließ das Gericht offen. Nach Auffassung des LG war die späte Ausübung des Widerrufs durch den Versicherungsnehmer rechtsmissbräuchlich. Selbst nach vollständiger Abwicklung des Versicherungsvertrages habe der Versicherungsnehmer die Gültigkeit des Vertrags über mehrere Jahre in keiner Weise infrage gestellt.
OLG verweigert Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH
Die hiergegen eingelegte Berufung wies das OLG Koblenz zurück. Das OLG verwies auf die Rechtsprechung des EuGH, wonach die nationalen Gerichte die Frage des Rechtsmissbrauchs nach nationalem Recht prüfen und entscheiden dürften, weil die Elemente des Rechtsmissbrauchs in den EU-Lebensversicherungsrichtlinien nicht geregelt seien. Die vom Beschwerdeführer zur Stützung seiner Rechtsauffassung angeführten Entscheidungen des EuGH beträfen den Widerruf von Verbraucherkrediten und nicht den Widerruf von Lebensversicherungen. Sie seien auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
Beschwerdeführer rügt Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechtes auf den gesetzlichen Richter sowie auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Der EuGH habe bisher über die Frage der rechtsmissbräuchlichen Ausübung des Widerrufsrechts im Fall des Widerrufs einer Lebensversicherung nicht entschieden. Das OLG habe willkürlich gegen seine Pflicht zur Vorlage dieser Rechtsfrage an den EuGH verstoßen, indem es bisher ungeklärte Fragen zum Rechtsmissbrauchseinwand in Fällen unzureichender Belehrung über das Widerrufsrecht als europarechtlich geklärt unterstellt und damit ohne Begründung von einer Vorlage an den EuGH abgesehen haben.
Bei Auslegungsfragen zum EU-Recht ist der EuGH der gesetzliche Richter
Der VGH bewertete diese rechtlichen Rügen als weitgehend begründet. EU-rechtlich sei tatsächlich nicht geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen es mit Unionsrecht vereinbar ist, wenn die Ausübung eines durch die Lebensversicherungsrichtlinien garantierten Widerspruchrechts wegen Rechtsmissbrauchs des Versicherungsnehmers ausgeschlossen wird, obwohl eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung fehlt. Wegen der bestehenden Unklarheit sei das OLG gemäß Artikel 267 Abs. 3 AEUV zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH verpflichtet gewesen. In einer solchen EU-rechtlichen Frage sei der EuGH der gesetzliche Richter im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Landesverfassung Rheinland-Pfalz bzw. nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (so auch: BVerfG, Beschluss v. 6.10.2017, 2 BvR 987/16).
Nichtvorlage hätte dezidiert begründet werden müssen
Der Vorlagepflicht habe das OLG nur durch eine dezidierte Begründung darüber entgehen können, weshalb es die aufgetretene Rechtsfrage als durch den EuGH geklärt bzw. als unter Anwendung der einschlägigen EU-Richtlinien eindeutig beantwortet ansieht. Im konkreten Fall lasse sich die Beantwortung der entscheidungserheblichen Fragen zum Rechtsmissbrauch der EU-Lebensversicherungsrichtlinie aber nicht eindeutig entnehmen und sei auch durch die Rechtsprechung des EuGH nicht erschöpfend geklärt.
Vorlagepflicht in rechtlich unhaltbarer Weise umgangen
Zwar ist nach Auffassung des VGH nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter. Ein Verfassungsverstoß liege aber immer dann vor, wenn die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV in offensichtlich rechtlich unhaltbarer Weise gehandhabt wurde. Das Fehlen jeder rechtlichen Begründung für ein Absehen von der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens sei grundsätzlich eine solche rechtlich unhaltbare Handhabung dieser Vorschrift.
Keine inhaltliche Auseinandersetzung des OLG mit EU-Richtlinie
Im Übrigen habe das OLG sich auch inhaltlich nicht mit den Zielen des in den Lebensversicherungsrichtlinien gewährleisteten Rücktrittsrechts und dessen möglicher Beeinträchtigung durch die Anwendung eines nationalen Rechtsmissbrauchseinwandes auseinandergesetzt. Die Verfassungsbeschwerde sei daher im Ergebnis wegen der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter erfolgreich. Ob auch das Recht des Beschwerdeführers auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt sei, müsse daher nicht entschieden werden.
(VGH Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 22.7.2022, B 70/21)
Hintergrund:
Das sogenannte ewige Widerrufsrecht u.a. bei Lebensversicherungsverträgen ist immer wieder Gegenstand auch nationaler Gerichtsentscheidungen. Betroffen sind insbesondere in dem Zeitraum 29.7.1994 bis 31.12.2007 abgeschlossene Lebensversicherungsverträge, da in diesem Zeitraum häufig gegen die Pflicht zur Belehrung über den Widerruf bzw. zur Belehrung über weitere Verbraucherrechte verstoßen wurde.
Ewiges Widerrufsrecht vom BGH bestätigt
In den Jahren 2014, 2015 hatte der BGH grundsätzlich entschieden, dass das Recht zum Widerruf eines solchen Vertrages über Jahre fortbestehen kann, wenn über das Recht zum Widerruf bei Vertragsschluss nicht ordnungsgemäß belehrt worden ist und damit der Lauf der Frist zum Widerruf niemals begonnen hat (BGH, Urteil v. 7.5.2014, IV ZR 76/11; BGH Urteil v. 29.7.2015, IV ZR 384/14 u. 448/14).
Beschränkung des Widerrufsrechts durch Einwand des Rechtsmissbrauchs
Dieses fast grenzenlose Recht zum Widerruf hat der BGH später durch die Ermöglichung des Einwands des Rechtsmissbrauchs wieder deutlich eingeschränkt. In den Fällen, in denen sich die Verletzung der Belehrungspflicht durch die Versicherungsgesellschaft auf rein formale Fehler beschränke, die die Kenntnisnahme des Versicherungsnehmers von seiner materiellen Rechtsposition in keiner Weise erschwere, könne eine sehr späte Ausübung des Widerrufsrechts rechtsmissbräuchlich sein (BGH, Urteil v. 10.2.2021, IV ZR 32/20).
EuGH muss Zulässigkeit des Rechtsmissbrauchseinwands bei Lebensversicherungen klären
Einige Instanzgerichte arbeiten in diesen Fällen auch mit dem Einwand der Verwirkung. Das LG Erfurt hat die Frage, ob die Erhebung des Einwands des Rechtsmissbrauchs oder der Verwirkung nach EU-Recht überhaupt rechtserheblich sein kann, in einem Vorlagebeschluss bereits Anfang dieses Jahres dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt (LG Erfurt, Beschluss v. 13.1.22, 8 O 1563/20). In seiner aktuellen Entscheidung hat der VGH Rheinland-Pfalz klargestellt, dass die Zuständigkeit zur Beantwortung dieser Rechtsfrage allein beim EuGH liegt.
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