Rz. 174
§ 164 VVG berechtigt den Versicherer bei der Lebensversicherung in bestimmten Fällen zur Änderung unwirksamer Versicherungsbedingungen. Voraussetzung für eine Bedingungsänderung ist, dass die Versicherungsbedingungen des Versicherers durch höchstrichterliche Entscheidung oder durch bestandskräftigen Verwaltungsakt für unwirksam erklärt worden sind und dass die Bedingungsänderung zur Fortsetzung des Vertrages notwendig ist oder dass das Festhalten an dem Vertrag ohne neue Regelung für eine Vertragspartei auch unter Berücksichtigung der Interessen der anderen Vertragspartei eine unzumutbare Härte darstellen würde. Der Sinn und Zweck der Vorschrift besteht vor allem darin, die Nachteile einer – nur im Individualprozess zulässigen – richterlichen ergänzenden Vertragsauslegung zu vermeiden; die Vorschrift soll eine schnelle, einheitliche und klare Vertragsergänzung ermöglichen. Sie soll eine gleichmäßige Anpassung des Bestandes mit einheitlichen AVB gewährleisten und eine richterliche ergänzende Vertragsauslegung in ggf. massenhaft geführten Individualverfahren mit Risiken für die langfristige Erfüllbarkeit der Verträge und Lasten, Kosten und Unsicherheiten für den einzelnen Versicherungsnehmer vermeiden. Eine Bedingungsanpassung nach Maßgabe des § 164 Abs. 1 VVG wird nicht dadurch verdrängt, dass eine richterliche ergänzende Vertragsauslegung möglich ist, da die Vorschrift anderenfalls leer liefe. Die mit dem Recht des Versicherers zur einseitigen Bedingungsanpassung verbundene Einschränkung der durch das Grundgesetz gewährleisteten Vertragsfreiheit der Versicherungsnehmer ist nach Ansicht des BGH nicht verfassungswidrig. Sie ist im Interesse der Rechtssicherheit und der nach § 138 Abs. 2 VAG gebotenen Gleichbehandlung aller Versicherungsnehmer sachlich notwendig. Die verfassungsrechtlich geschützten Interessen derjenigen, die von der gesetzlichen Einschränkung der Vertragsfreiheit betroffen sind, werden dadurch geschützt, dass die neuen Klauseln sowohl im Individualprozess als auch im Verbandsprozess der uneingeschränkten richterlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Materiell ist dem Schutzbedürfnis der Versicherungsnehmer durch eine die Voraussetzungen und Wirkungen des § 164 VVG präzisierende und einschränkende Auslegung Rechnung zu tragen. Umstritten ist, ob nur ein Recht oder eine Obliegenheit und/oder gar eine öffentlich-rechtliche Pflicht zur Klauselersetzung besteht, die bei Nichterfüllung einen Missstand i.S.d. § 294 VAG zur Folge hat.
Rz. 175
Beachte
Auch ohne Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung entfällt die Wiederholungsgefahr für das Verwenden unzulässiger AVB sowohl im Bestands- als auch im Neugeschäft, wenn geänderte Bedingungen im Neugeschäft verwendet und die Bedingungen des Bestandsgeschäfts über das Bedingungsänderungsverfahren gem. § 164 VVG geändert werden. Wird eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben, ist diese auch dann geeignet, die Wiederholungsgefahr zu beseitigen, wenn der Versicherer eine kurze Übergangszeit in Anspruch nimmt, soweit diese für die Umstellung auf neue AVB erforderlich ist, und der Versicherer die Unterlassungserklärung sachlich dahin einschränkt, ob ein aufgrund eines vergleichbaren Unterlassungsurteils festgesetztes Ordnungsgeld in dieser Höhe vollstreckbar wäre. Die Tatsache, dass der Versicherer ein Bedingungsänderungsverfahren gem. § 164 VVG eingeleitet hat, steht der Ernsthaftigkeit einer Unterlassungserklärung nicht entgegen. Eine tatsächliche Vermutung für das Bestehen einer Wiederholungsgefahr ist nur dann anzunehmen, wenn sich der Versicherer tatsächlich auf die unzulässigen AVB berufen hat. Ein solches Berufen auf unzulässige AVB liegt nur dann vor, wenn das Unternehmen die Klauseln seinem Vertragspartner bei der Durchsetzung seiner Rechte entgegenhält und diese unter Bezugnahme auf sie verteidigt. Es liegt nicht vor, wenn ein Versicherungsunternehmen seine Versicherungsnehmer ausdrücklich darauf hinweist, dass bestimmte Klauseln vom BGH wegen Intransparenz beanstandet worden sind und zur Aufrechterhaltung der bisherigen Verrechnungspraxis auf eine ergänzende Auslegung der AVB bzw. auf die Durchführung des Bedingungsänderungsverfahrens hinweist.
Rz. 176
In § 164 VVG ist keine Beschränkung des Rechts zur Bedingungsanpassung auf bestimmte Arten von Lebensversicherungen vorgesehen. Der Anwendungsbereich der Vorschrift des § 164 Abs. 1 VVG umfasst dementsprechend sämtliche Lebensversicherungen und damit auch die kapitalbildende Lebensversicherung.
Rz. 177
§ 164 VVG setzt voraus, dass die Unwirksamkeit einer Klausel verbindlich festgestellt ist. Der Versicherer hat keine eigene Verwerfungskompetenz. Vielmehr muss die Unwirksamkeit einer Klausel durch einen bestandskräftigen Verwaltungsakt der Aufsichtsbehörde oder der Kartellbehörde oder eine höchstrichterliche Entscheidung (entweder BGH-Urteil oder unanfechtbares OLG-Urteil) festgestellt worden sein. Nur solche Entscheidungen schaffen ...