Rz. 10
Ob der Erblasser eine Vor- und Nacherbschaft angeordnet hat, muss durch Auslegung der letztwilligen Verfügung unter Heranziehung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze ermittelt werden. Dabei kommt dem Wortlaut keine entscheidende Bedeutung zu. Die Anordnung von Vor- und Nacherbschaft setzt nicht voraus, dass der Erblasser diese Begriffe verwendet hat. Auch in dem Gebrauch objektiv falscher Bezeichnungen – z.B. "Alleinerbe", "Ersatzerbe" oder "Nießbrauch" – kann die Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft liegen, sofern Anhaltspunkte für einen dahin gehenden Willen des Erblassers ermittelt werden können. Entscheidend ist vielmehr, dass sich aus der letztwilligen Verfügung der Wille des Erblassers ergibt, die Erbschaft mehreren Personen nacheinander zuwenden zu wollen.
Rz. 11
Lässt sich der wirkliche Wille des Erblassers nicht ermitteln, sind neben den allgemeinen Auslegungsregeln die besonderen Auslegungs- und Ergänzungsregeln der §§ 2101–2107 BGB heranzuziehen. Diese betreffen die Fragen, ob der Erblasser überhaupt eine Vor- und Nacherbschaft angeordnet hat, welche Personen als Vor- oder Nacherben berufen wurden und schließlich den Zeitpunkt des Eintritts des Nacherbfalls.
Rz. 12
Haben Ehegatten in einer letztwilligen Verfügung ihr Vermögen zunächst dem Überlebenden und anschließend auf den Tod des Zweitversterbenden einem Dritten – in der Regel den gemeinschaftlichen Kindern – zugewandt, so kommen verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten in Betracht.
Welche Lösung dem wirklichen Willen des Erblassers entspricht, ist wiederum durch Auslegung zu ermitteln:
Rz. 13
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Trennungslösung: Jeder Partner setzt den anderen zum Vorerben und den Dritten zum Nacherben ein. Zugleich bestimmen die Partner den Dritten für den Fall, dass der andere Partner zuerst stirbt, zum (Ersatz-)Erben. Unterbleibt die Einsetzung eines Ersatzerben, greift die Auslegungsregel des § 2102 Abs. 1 BGB ein, die besagt, dass die Einsetzung als Nacherbe im Zweifel auch die Einsetzung als Ersatzerbe umfasst. Dem überlebenden Partner stehen in diesem Fall zwei rechtlich getrennte Vermögensmassen zu, das Vorerbenvermögen und sein Eigenvermögen. Nach dem Tod des Letztversterbenden fällt der Nachlass dem Dritten aus zwei verschiedenen Berufungsgründen an, er ist Nacherbe des Erstversterbenden und zugleich Vollerbe des Letztversterbenden. Man spricht deshalb von der "Trennungslösung", weil zwei getrennte Vermögensmassen bestehen. |
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Einheitslösung (Vollerbenlösung): Die Partner setzen sich gegenseitig zu alleinigen Vollerben ein. Auf den Tod des Längerlebenden wird ein Dritter Schlusserbe für das gemeinschaftliche Vermögen beider Partner. Bei dieser Lösung verschmelzen die Vermögen des Erstversterbenden und des Überlebenden auch rechtlich zu einer Vermögensmasse. Der Dritte wird Vollerbe des Letztversterbenden. Er erhält den Nachlass nur aus einem Berufungsgrund, daher die Bezeichnung "Einheitslösung". |
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Nießbrauchsvermächtnis: Dem überlebenden Partner wird vermächtnisweise lediglich der Nießbrauch (§§ 1089, 1085 ff., 2147 ff. BGB) am gesamten Nachlass des Erstversterbenden eingeräumt. Der Dritte wird Vollerbe beider Partner. |
Rz. 14
Verbleiben nach der Auslegung noch Zweifel, welche der aufgezeigten Gestaltungsmöglichkeiten dem wirklichen Willen des Erblassers entspricht, greift die Auslegungsregel des § 2269 Abs. 1 BGB ein: Die Vermutung spricht für das Einheitsprinzip. Wer sich auf das Trennungsprinzip – also Vor- und Nacherbfolge – beruft, trägt deshalb die Beweislast.
Rz. 15
Die Zuordnung hat praktische Konsequenzen im Pflichtteilsrecht. Durch die Nacherbeneinsetzung wird der Dritte nicht von der Erbfolge ausgeschlossen, er kann seinen Pflichtteil erst nach Ausschlagung der Nacherbschaft verlangen (§ 2306 Abs. 1, 2 BGB).
Daneben ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen auch bei der Erbschaftsteuerpflicht.
Weiterführend zu den Gesichtspunkten, die bei der Gestaltung einer letztwilligen Verfügung für und gegen eine Vor- und Nacherbfolge sprechen: Staudinger/Avenarius (2019), vor § 2100 Rn 11 ff. und Tanck, in: Tanck/Krug/Süß, AF Testamente, § 11 Rn 2.
Rz. 16
Schwierigkeiten kann die Abgrenzung der Vor- und Nacherbschaft zur Ersatzerbschaft (§ 2096 BGB) bereiten. Der Eintritt der Ersatzerbfolge steht immer unter der Bedingung, dass der zunächst Berufene nicht Erbe wird, weil er, beispielsweise aufgrund von Tod oder Ausschlagung, vor oder nach dem Erbfall weggefallen ist. Demgegenüber sollen bei der Anordnung einer Vor- und Nacherbfolge zeitlich gestaffelt sowohl der Vorerbe als auch der Nacherbe Rechtsnachfolger des Erblassers werden. Entscheidend für die Abgrenzung ist deshalb der Wille des Erblassers, die Rechtsnachfolge nur einmal (dann Ersatzerbschaft) oder mehrfach (dann Vor- und Nacherbschaft) eintreten lassen zu wollen. Verbleiben Zweifel, ob eine Berufung als Ersatzerbe oder als Nacherbe erfolgen soll, so gilt die Einsetzung gem. § 2102 Abs. 2 BGB als Ersatzerbeneinsetzung.