Dr. iur. Maximilian von Proff zu Irnich
A. Allgemeines
Rz. 1
Sozialhilfe und Bürgergeld bzw. Grundsicherung (bis zum 31.12.2022: Arbeitslosengeld II; bis zum 31.12.2004: Arbeitslosenhilfe) sind steuer- und nicht beitragsfinanzierte Systeme staatlicher Daseinssicherung. Sie kommen nur Bedürftigen zu Gute. Bei erwerbsfähigen Bedürftigen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 67. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, geht das Bürgergeld der Sozialhilfe vor (§ 5 Abs. 2 S. 1 SGB II). Sozialhilfe und Bürgergeld werden vom Nachranggrundsatz beherrscht: Sie erhält nur, wer sich weder selbst helfen kann noch die erforderliche Leistung von anderen erhält. Für nicht getrennt lebende Ehegatten und für eheähnliche Gemeinschaften gilt eine verschärfte Bedürftigkeitsprüfung, die als eine tatbestandlich konkretisierte Ausprägung des Nachranggrundsatzes verstanden werden kann. Ihr liegt eine Ausnahme von der grundsätzlich geltenden individuellen Betrachtungsweise zu Grunde. Eine in intakter Ehe oder in eheähnlicher Gemeinschaft lebende Person kommt nicht schon dann in den Genuss von Sozialhilfe und Bürgergeld, wenn ihr eigenes Einkommen und Vermögen unter den Schädlichkeitsgrenzen liegt. Ein Anspruch besteht für sie vielmehr nur dann, wenn auch der andere Ehegatte bzw. Lebensgefährte nicht über ein für beide ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügt; dann kommt es (anders als bei der allgemeinen Bedürftigkeitsprüfung) im Grundsatz nicht auf tatsächliche Unterhaltsleistungen an.
Rz. 2
Seit der für Erwerbsfähige geltenden "Zusammenlegung" von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Bürgergeld II (bis 31.12.2022: Arbeitslosengeld II) mit Wirkung zum 1.1.2005 und dem gleichzeitig eingeführten Vorrang des Arbeitslosengeldes II vor der Sozialhilfe (§ 5 Abs. 2 S. 1 SGB II, § 21 S. 1 SGB XII) ist das Bürgergeld und nicht mehr die Sozialhilfe die Grundform staatlicher nicht beitragsfinanzierter finanzieller Daseinssicherung. Erwerbsfähige Personen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren erhalten bei Hilfebedürftigkeit nur Bürgergeld, nicht dagegen Sozialhilfe. Ein Großteil der bisherigen Leistungsberechtigten ist damit aus der Sozialhilfe ausgeschieden. Knapp 5,0 Millionen Menschen erhielten Ende 2021 Gesamtregelleistungen (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld). Gut 1,1 Millionen Personen haben im Dezember 2021 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bezogen. Davon erhielten knapp 589.000 Personen Grundsicherung im Alter.
Rz. 3
Der Gesetzgeber hat zugleich das Bürgergeld deutlich an die Sozialhilfe angenähert. Kennzeichnend hierfür ist, dass das Lebensstandardprinzip, das bis Ende 2004 insbesondere in §§ 195 und 200 Abs. 3 SGB III verankert war, ab 1.1.2005 nicht mehr besteht. Damit ist ein wesentlicher Strukturunterschied zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe alter Prägung eingeebnet worden.
B. Die verschärfte Bedürftigkeitsprüfung
Rz. 4
Beim Bürgergeld und im Sozialhilferecht sollen zum Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) Besserstellungen der eheähnlichen Gemeinschaft gegenüber Ehegatten durch die folgenden Regelungen vermieden werden.
Rz. 5
Bürgergeld wird nach §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 Abs. 1 SGB II nur Hilfebedürftigen gewährt. Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften, insbesondere durch zumutbare Arbeit oder aus Einkommen oder Vermögen sichern kann. Nach § 9 Abs. 2 S. 1 SGB II ist bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Zur Bedarfsgemeinschaft eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen gehört u.a. sein "Partner" (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 SGB II). "Partner" ist dabei legaldefiniert als der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte oder Lebenspartner (i.S.d. LPartG) sowie der Lebensgefährte. Letzterer wird seit einer Änderung durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20.7.2006 umschrieben als "eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen". Die vorgenannte Neuregelung durch das Gesetz vom 20.7.2006 ist nicht rein terminologisch-ästhetischer Natur, sondern Reaktion auf Auslegungs- sowie Verfassungsmäßigkeitszweifel und praktische Umsetzungsschwierigkeiten der Anrechnungs- und Bedürftigkeitsprüfung im Hinblick auf eheähnliche Gemeinschaften.
Rz. 6
Nach dem Inkrafttreten des SGB II zum 1.1.2005 entsprach es einhelliger Auffassung in der Wissenschaft sowie der Verwaltungs- und der ganz überwiegenden ...