Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 446
Anzeigeobliegenheiten im Rahmen des Vertragsschusses sind in der Personenversicherung von weitaus größerer Bedeutung als in der Sachversicherung. Die erfragten Angaben sollen den Versicherer nicht nur in den Stand versetzen, das zu versichernde Risiko richtig einschätzen und mit einer sachgerechten Prämie belegen zu können, sondern diesen auch vor einem Risiko schützen, das ihm nicht bekannt gegeben wurde. Die Regelungen der §§ 19 ff. VVG sind allerdings relativ unübersichtlich, ja sogar kompliziert und verwirrend gestaltet. Die Rechtsfolgen der vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung werden in Anlehnung an den Gesetzestext in § 6 Nr. 4 bis 19 der MB BUV 22 geregelt.
Rz. 447
Hinweis
Liegt eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung vor, lassen sich – differenziert nach Grad des Verschuldens – drei wesentliche Konstellationen unterscheiden: Bei einfach fahrlässiger Anzeigepflichtverletzung kann der Versicherer den Vertrag kündigen oder anpassen, bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit vom Vertrag zurücktreten und bei Arglist anfechten.
Um feststellen zu können, welches Gestaltungsrecht dem Versicherer zusteht, muss also zunächst festgestellt werden, welcher Verschuldensgrad beim Versicherungsnehmer anzutreffen ist. Es ist allerdings auch stets zu prüfen, ob es sich um einen echten Neuabschluss eines Vertrages handelt oder aber um eine bloße Modifikation eines bestehenden Vertrages oder um Fragen, die im Rahmen eines bestehenden Vertrages bei Vertragsverlängerung gestellt werden, damit der Versicherer das laufende Risiko bewerten kann. Nur im Falle eines echten Neuabschlusses bestehen die Rechte des Versicherers aus §§ 19 ff. VVG.
Rz. 448
Der Versicherer darf jeweils "mildere" Gestaltungsrechte bei einer schwereren Verschuldensform geltend machen; so etwa das Recht auf Vertragsanpassung, wenn der Versicherer eigentlich zum Rücktritt berechtigt wäre.
Rz. 449
Der Versicherer kann gemäß § 19 Abs. 2 VVG nach Eintritt des Versicherungsfalls den Rücktritt erklären, so dass der Vertrag von Anfang an als aufgehoben gilt. Der hierfür erforderliche Vorsatz bzw. die grobe Fahrlässigkeit werden vermutet, können allerdings vom Versicherungsnehmer widerlegt werden (§ 19 Abs. 3 S. 1 VVG). Beweist der Versicherungsnehmer, dass er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig die Anzeigepflicht verletzt hat, ist der Versicherer auf die Kündigung beschränkt, so dass der Vertrag ex nunc beendet wird und er für den Versicherungsfall noch einstehen muss.
Rz. 450
Der Versicherungsnehmer kann im Falle eines an sich bestehenden Rücktrittsrechts des Versicherers nach § 19 Abs. 2 VVG ggf. den negativen Kausalitätsgegenbeweis dahingehend führen, dass die Anzeigepflichtverletzung weder für Eintritt noch Umfang der Leistungspflicht des Versicherers Auswirkungen hatte (§ 21 Abs. 2 S. 1 VVG). Dann bleibt dessen Leistungsverpflichtung bestehen, es sei denn, der Versicherungsnehmers hätte arglistig gehandelt (§ 21 Abs. 2 S. 2 VVG).
Rz. 451
Hat der Versicherungsnehmer weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt (d.h. einfach fahrlässig oder schuldlos), liegen aber Gefahrumstände vor, bei deren Kenntnis der Versicherer den Vertrag nicht geschlossen hätte, kann der Versicherer durch Kündigung den Vertrag für die Zukunft beseitigen. Für die vor Kündigung eingetretenen Versicherungsfälle bleibt die Leistungsverpflichtung jedoch bestehen. Ein schuldloses Handeln wird allerdings praktisch kaum vorkommen, da es sodann in der Regel bereits objektiv an einer Anzeigepflichtverletzung fehlen wird; dies etwa bei fehlender Kenntnis von gefahrerheblichen Umständen. § 19 Abs. 1 VVG hält insofern ausdrücklich fest, dass der Versicherungsnehmer (lediglich) die "ihm bekannten Gefahrumstände" angegeben muss (vgl. zur Kenntnis Rdn 392 ff.).
Rz. 452
Hat der Versicherungsnehmer weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt und hätte der verschwiegene Umstand nicht zur völligen Ablehnung des Antrags, wohl aber zur Annahme unter erschwerten Bedingungen (etwa Risikoausschluss oder höhere Beiträge) geführt, kann der Versicherer eine dahingehende Vertragsanpassung verlangen; bei schuldlosem Verhalten des Versicherungsnehmers ab der laufenden Versicherungsperiode, sonst rückwirkend (§ 19 Abs. 4, S. 2 VVG). Der Versicherungsnehmer kann dann seinerseits bei Risikoausschluss oder bei Prämienerhöhung von mehr als 10 % den Vertrag binnen Monatsfrist außerordentlich kündigen. Hat der Versicherer in der Anpassungsmitteilung nicht ordnungsgemäß belehrt, kann auch nach Ablauf des Monats noch jederzeit gekündigt werden (§ 19 Abs. 6 VVG).
Rz. 453
Rücktritt, Kündigung bzw. Leistungsausschluss oder -kürzung gemäß § 19 VVG müssen vom Versicherer binnen Monatsfrist ab Kenntnis von der Obliegenheitsverletzung mit genauer Begründung schriftlich erklärt werden (§ 21 Abs. 1 VVG). Wird die Frist versäumt, können die Rechte nicht mehr durchgesetzt werden. Hierbei ist Zweck der Monatsfrist, dem Versicherungsnehmer zu ermöglichen, sich anderweitig...