Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 94
Es gilt zudem der allgemeine Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme aus Treu und Glauben (§ 242 BGB), gegen den der Versicherte ausnahmsweise durch das Unterlassen einer Therapiemaßnahme verstoßen kann, auch ohne vertraglich geregelte Obliegenheit. Im Rahmen der Zumutbarkeit muss sich der Versicherungsnehmer Kompensationsmöglichkeiten entgegenhalten lassen. Trifft aber ein Versicherter einfache, gefahrlose, nicht mit Schmerzen verbundene und sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung versprechende medizinische Maßnahmen nicht, ist er nach Treu und Glauben gehindert, den Versicherer auf die versprochenen Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Dies ist der Fall, wenn die versicherte Person sich in völlig ungewöhnlicher und unsachgemäßer Weise verhält und im Alltag selbstverständliche, keine gesundheitlichen Risiken bergende und auch sonst nicht unzumutbare Hilfen zur Beherrschung von physischen oder psychischen Beschwerden nicht ergreift oder sogar ohne solche Hilfen ihre beruflichen Behinderungen schlicht durch Willensanstrengung ausgleichen oder beseitigen könnte.
Derartiges muss mithin eine Ausnahme bei bewusster "Therapieunwilligkeit" bleiben, da ansonsten ein nicht vorgesehenes allgemeines Zumutbarkeitskriterium eingeführt würde. Insofern können nur eindeutige Fälle, z.B. das Unterlassen des Tragens einer Brille, oder der Verwendung eines orthopädischen Sitzkissens o.ä., gegen Treu und Glauben verstoßen. Keine Unzumutbarkeit liegt auch dann vor, wenn sich dem Leiden durch Medikamente gefahrlos begegnen lässt, z.B. der Blutdruck medikamentös eingestellt werden kann. Insgesamt ist der Versicherte dem Versicherer gegenüber nach Treu und Glauben zu loyalem Verhalten verpflichtet.
Beispiele
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Ein Koch, der an einer erheblichen, auf den Kontakt mit Feuchtigkeit und Lebensmitteln zurückzuführende Hauterkrankung an Händen und Armen leidet, ist nicht berufsunfähig, wenn er ohne ins Gewicht fallende gesundheitliche, zeitliche oder berufliche Belastungen durch Tragen von Schutzhandschuhen das Auftreten und die Verstärkung der Hauterkrankung verhindern kann. |
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Auch einem Lackierer, der gegen Acryl-Harze allergisch ist, kann das Tragen von Handschuhen zugemutet werden. |
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Berufsunfähig ist aber ein Landwirt, der bei täglich 6 Stunden Stallarbeit mindestens zwei Drittel dieser Zeit wegen einer Lungenschädigung eine Autoflow-Maske tragen müsste. |
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Das Tragen einer Orthese ist unzumutbar, wenn es durch deren Gebrauch bei längerer kniender Tätigkeit zu Durchblutungsstörungen und Weichteilschäden kommen kann. |
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Es kann dem wegen einer Mehlstauballergie berufsunfähigen Versicherungsnehmer nicht zugemutet werden, die Staubbelastung durch Installierung von Absauganlagen oder Anlegen einer Staubmaske zu vermindern, sofern sich der Betroffene jeglichen Kontaktes mit Backmehl zu enthalten hat, weil ansonsten ein Fortschreiten der allergischen Symptomatik einschließlich der Gefahr eines schweren chronischen Asthmas bronchiale zu befürchten ist. |
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Die Durchführung einer konkreten Behandlung (indem Fall: Lithiumtherapie) ist unzumutbar, wenn die behandelnden Ärzte die Therapie nicht für erforderlich halten. |
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Leidet die versicherte Inhaberin einer Pizzeria mit Pizzabäckerei an mehlstauballergischem Asthma mit Hyperreagibilität des Bronchialsystems, liegt Berufsunfähigkeit vor, wenn es nicht möglich ist, die in den Betriebsräumen vorhandenen, das Bronchialsystem reizenden Substanzen durch Filter- oder Entlüftungsanlagen zu beseitigen. Auch ist es der Versicherungsnehmerin nicht zuzumuten, im Theken- und Servicebereich eine die Substanzen fernhaltende Staubmaske zu tragen. |
Rz. 95
Bei Altverträgen war teilweise in den AVB vorgesehen, dass die versicherte Person ärztliche Anordnungen zu befolgen hatte, die der untersuchende oder behandelnde Arzt nach gewissenhaftem Ermessen trifft, um die Heilung zu fördern oder die Berufsunfähigkeit zu mindern, sofern sich die Anordnungen im Rahmen des Zumutbaren halten. In den Musterbedingungen des GDV taucht diese Klausel seit 2006 nicht mehr auf und ist auch in neueren Verträgen nicht mehr enthalten. Uneindeutig wird in der Rechtsprechung die Frage beurteilt, ob zu dem Kreis der Ärzte, deren "Anordnungen" relevant sind, auch solche zählen, die vom Versicherer oder als gerichtliche Sachverständige eingeschaltet werden.
Rz. 96
Sofern die Klausel die Obliegenheiten auf zumutbare Mitwirkungsmaßnahmen und Anordnungen des eigenen Arztes des Versicherten beschränkt, soll diese grundsätzlich im Lichte von § 307 BGB wirksam sein. Solche Klauseln sind dahingehend bedenklich, weil sie den Versicherten unangemessen benachteiligen, sofern sie Anordnungen des nur untersuchenden Arztes, insbesondere des vom Versicherer mit der Untersuchung beauftragten Arztes einbeziehen (Eingriff in das Persönlichkeitsrecht). Die Anordnungen des Arztes sind dann gleichwohl im Einzelfall daraufhin zu prüfen, ob die Grenze der Zumutbarkei...