Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 178
Der Maßstab für die Beurteilung der Ausbildung und Erfahrung bzw. der Kenntnisse und Fähigkeiten ist ein objektiv-individueller. Es kommt nicht darauf an, ob die versicherte Person die Kenntnisse und Erfahrungen, die sie besitzt, auch in ihrem letzten Beruf einsetzen musste; es kommt nur darauf an, dass sie überhaupt über diese verfügt – unbeachtlich, auf welchem Wege sie erworben wurden.
Rz. 179
Wenn der Vergleichsberuf der Ausbildung der versicherten Person entsprechen soll, muss er ihr den Zugang zu dem Verweisungsberuf aber grundsätzlich eröffnen. Es kann deshalb niemand auf eine Tätigkeit verwiesen werden, die üblicherweise nur mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung ausgeübt wird, die er nicht besitzt. Irrelevant sind demnach Kenntnisse, die der Versicherte wegen seiner geistigen Fähigkeiten noch erwerben könnte. Es sind nur solche Defizite hinzunehmen, die nach Art und Umfang durch eine angemessene Einarbeitung – wie sie bei jeder neuen Stelle üblich ist – ausgeglichen werden könnten (hierzu im Folgenden).
Rz. 180
Die Verweisung durch den Versicherer erfolgt regelmäßig abstrakt, sofern die Bedingungen dies zulassen. Es ist deshalb grundsätzlich ohne Belang, ob die versicherte Person die Verweisungstätigkeit tatsächlich aufnimmt. Hat der Versicherte jedoch eine andere Tätigkeit aufgenommen, kann der Versicherer auch eine konkrete Verweisung aussprechen auf den neuen Beruf, den der Versicherte bereits ausübt. Unzulässig ist eine gemischt konkret-abstrakte Verweisung. Der Versicherer kann also den konkret ausgeübten Beruf des Versicherungsnehmers weder finanziell noch in den Arbeitsbedingungen verändern wollen, solange sich die versicherte Person einer ohne Weiteres möglichen Veränderung nicht mutwillig entzieht.
Beispiel
Eine ehemalige Kellnerin, die zuletzt tatsächlich als Bürohilfe gearbeitet hatte, muss bei dieser Tätigkeit als Hilfsmittel ein Stehpult nutzen, wenn es sich um ein unproblematisch zugängliches Hilfsmittel handelt.
Rz. 181
Die aufgezeigte Vergleichstätigkeit darf weder deutlich geringere noch deutlich höhere Kenntnisse und Erfahrungen erfordern. Das Gericht hat zunächst einen Vergleich der Anforderungsprofile des Vergleichsberufes mit der zuletzt ausgeübten Tätigkeit vorzunehmen. Allerdings spielt es für die Zumutbarkeit der Verweisung auch eine Rolle, ob der Versicherte den Verweisungsberuf in der Vergangenheit einmal ausgeübt oder erlernt hatte, auch wenn es sich nicht um die letzte Tätigkeit "in gesunden Tagen" handelt. Bei einer wechselhaften Erwerbsbiografie steigt also die potenzielle Spanne der zumutbaren Verweisungsberufe.
Beispiele
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Eine Bäckermeisterin, die in ihrem Beruf berufsunfähig wird, kann nicht auf den Beruf einer Hotelfachfrau verwiesen werden, weil diese Tätigkeit deutlich geringere Kenntnisse und Fähigkeiten als der bisherige Beruf erfordert. |
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Ein gelernter Stuckateur muss sich jedoch auf die zur Überbrückung von Arbeitslosigkeit aufgenommene Tätigkeit eines Maschinenführers, die bei Eintritt des Versicherungsfalls seit 1,5 Jahre ausgeübt wurde, verweisen lassen. |
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Ein Kraftfahrer in der Abfallbranche kann nicht auf eine tatsächlich ausgeübte Beschäftigung als Recyclinghofarbeiter verwiesen werden, da diese Tätigkeit deutlich geringere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung wie in ihrer Wertschätzung spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt. |
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Ein selbstständiger Gastwirt, der kocht, einkauft, bei der Bedienung hilft und auch die Reinigung seiner Gerätschaften selbst vornimmt, sowie Vorbereitungsarbeiten für die Buchhaltung erledigt, kann nicht auf eine Bürotätigkeit verwiesen werden, da er seine Gastwirtschaft nicht alleine durch die ihm noch mögliche Büroarbeit fortführen, könnte. |
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Es kann niemand auf eine weitgehend vorgegebene Schreibtischtätigkeit verwiesen werden, der bis dahin in erster Linie eine von Kreativität geprägte Tätigkeit im EDV-Bereich sowie eine stellvertretende Leitungsposition ausgeübt hat. |
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Ein mehrjährig angelernter Gerüstbauer kann nicht auf eine Tätigkeit im Empfangs- und Eingangsbereich, bei der Registratur oder als Abteilungsbote verwiesen werden. |
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Eine Verweisung einer als selbstständige Handelsvertreterin für Staubsauger tätigen Versicherungsnehmerin auf eine kombinierte Telefon- und Empfangstätigkeit ist nicht möglich, wenn die Versicherungsnehmerin keine Grundkenntnisse in der Bedienung eines PCs hat. |
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Eine gelernte Verwaltungsangestellte mit Schreibmaschinenkenntnissen, die Jahre lang als Lkw-Fahrerin tätig war, kann auf ihren vormals erlernten Beruf verwiesen werden, auch wenn sie in einer Einarbeitungszeit von drei bis sechs Monaten erstmals PC-Kenntnisse erwerben muss. |
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Ein Fleischer, der in einem kleinen Betrieb überwiegend mit der Schlachtung und Fleischzerlegung befasst ist, kann nicht auf den Beruf eines Fleischermeisters in einem Großbetrieb mit vorwiegend aufsichtsführender und kaufmännischer Tä... |