Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 442
Grundsätzlich besteht keine gesetzliche Pflicht des Versicherers, die Richtigkeit jeglicher bei Vertragsanbahnung erteilten Auskünfte des Versicherungsnehmers – sofern sie nicht ersichtlich unklar sind – bereits vor Vertragsschluss zu überprüfen. Den Versicherer trifft nach § 242 BGB allerdings eine Nachfrageobliegenheit, wenn er aus Antworten des Versicherungsinteressenten auf Antragsfragen nach gefahrerheblichen Umständen den Schluss ziehen kann, dass eine sachgerechte Risikoprüfung vor Abschluss des Versicherungsvertrages noch nicht möglich ist, sondern es weiterer Informationen bedarf. Unterlässt er sodann ergänzende Rückfragen oder Nachforschungen, so kann er nach Eintritt des Versicherungsfalls keine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit (und damit keine Rechte aus § 19 VVG) geltend machen. Etwas anderes gilt jedoch bei einer arglistigen Verletzung der Anzeigeobliegenheit durch den Versicherungsnehmer. Liegt eine solche vor, kommt es auf die Verletzung einer Nachfrageobliegenheit seitens des Versicherers nicht an und der Versicherer kann gleichwohl wegen arglistiger Täuschung anfechten.
Rz. 443
Wann den Versicherer eine Nachfrageobliegenheit trifft, ist nicht immer einfach zu beantworten, da es keine generalisierte Pflicht gibt, die Angaben des Kunden zu überprüfen. Ohne besonderen Anlass trifft den Versicherer keine Verpflichtung, glaubhaft erscheinende Angaben auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Die Obliegenheit des Versicherers zur Risikoprüfung darf nicht als Verpflichtung zur Prüfung der Wahrheitsliebe des Versicherungsnehmers missverstanden werden. Eine Nachfrage obliegt dem Versicherer vielmehr nur dann, wenn ernsthafte Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die bisher vom Kunden erteilten Auskünfte nicht abschließend oder nicht richtig sein könnten und deshalb weitere Informationen für eine sachgerechte Risikoprüfung erforderlich sind. Es braucht jedoch kein bestimmter Verdacht vorzuliegen. Antwortet der Versicherungsnehmer auf klare Fragen lediglich unrichtig, trifft den Versicherer ebenso wenig eine Nachfrageobliegenheit wie dann, wenn Umstände verharmlost werden.
Rz. 444
Ob die Antworten des Versicherungsnehmers ersichtlich lückenhaft, unzureichend oder widersprüchlich und damit zu hinterfragen sind, kann nur im Einzelfall beantwortet werden. Führen die Antworten dem Versicherer vor Augen, dass der Antragsteller seiner Anzeigeobliegenheit nicht hinreichend entsprochen hat, und dass ohne eine ergänzende Rückfrage eine sachgerechte Risikoprüfung noch nicht erfolgen kann, ist er im eigenen Interesse gehalten, eine weitere Aufklärung zu betreiben.
Beispiele für bejahte Nachfrageobliegenheit
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Wurde der Versicherer über eine "Blockade" im Bereich der Wirbelsäule unterrichtet, so ist dies regelmäßig Anlass genauer nachzufragen, weil es sich bei Wirbelsäulenbeschwerden um für die Berufsunfähigkeitsversicherung besonders relevante Leiden handelt. |
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Wird im Antragsformular eine "Kniegelenksarthroskopie" angegebenen, ist dies Anlass zu weiteren Erkundigungen, da dieses medizinische Verfahren sowohl zur Diagnose als auch zu Therapiezwecken zum Einsatz kommen kann und auch unklar ist, welcher konkrete Krankheitsverdacht oder welche Erkrankung der Maßnahme zugrunde lag, zumal der Zusatz "ausgeheilt" auf eine zuvor bestehende Erkrankung hin deutet, deren Art aus dem Antragsformular nicht hervorgeht. Bei dieser Sachlage ist eine ordnungsgemäße Risikoprüfung nicht möglich. |
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Es besteht für den Versicherer Anlass zu einer klärenden Nachfrage, wenn im Antrag zu einer BUV vom Antragsteller Rückenschmerzen angegeben werden; denn ohne Aufklärung ihrer Ursachen lässt sich eine ordnungsgemäße Risikoprüfung nicht durchführen, weil Rückenschmerzen auch als Symptomatik für schwerwiegende Erkrankungen zu werten sein können. |
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Werden bei Antragstellung Schwindel- bzw. Ohnmachtsanfälle unklarer Ursache angegeben, hätte der Versicherer nachfragen müssen, da diese gravierende organische Ursachen haben können. |
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Angaben wie "Neurodermitis seit Geburt" und die Benennung von Medikamenten löst eine Nachfrageobliegenheit aus, auch wenn die weiteren Gesundheitsfragen weitestgehend vereint sind. |
Rz. 445
Beispiele für verneinte Nachfrageobliegenheit
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Bejaht ein Versicherungsnehmer die Frage nach Untersuchungen, Beratungen und Behandlungen in den letzten fünf Jahren, kann sich diese Erklärung allerdings auch nur auf eine angegebene Bänderabrissoperation beziehen, ist damit nicht automatisch ersichtlich, dass weitere Behandlungen stattgefunden haben müssen, zu denen Angaben fehlen. |
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Hat der Versicherungsnehmer dem Agenten bei Ausfüllung des Formulars mitgeteilt, er habe wegen Muskelverspannungen einige Massagen erhalten, nicht jedoch, er habe unter Schmerzen gelitten, soll nicht weiter nachgeforscht werden müssen, etwa ob eine ärztliche Behandlung bzw. Verordnung oder weitere Beschwerden bzw. Schmerzen gegeben waren. |