Rz. 111

Vor dem Hintergrund der ZPO-Reform und der damit bewirkten Reduzierung der Tätigkeit des Berufungsgerichts als zweite Tatsacheninstanz sowie der eingeschränkten Möglichkeit, im Berufungsverfahren neue Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorzutragen, gewinnt der Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils an Gewicht. Das Berufungsgericht ist bei der Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung nach § 529 ZPO grundsätzlich an den dort festgestellten Tatbestand gebunden. Nichts anderes gilt in der Revisionsinstanz nach § 559 ZPO.

 

Rz. 112

 

Hinweis

Anderes gilt nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachenfeststellung begründen. Diese Frage stellt sich aber erst nach der Tatbestandsberichtigung.

 

Rz. 113

Aufgrund dieser gewachsenen Bedeutung des Tatbestands muss der Bevollmächtigte den Tatbestand auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit prüfen. Gibt der Tatbestand den Sach- und Streitstand nicht zutreffend wieder, muss dieser nach § 320 ZPO auf Antrag der Parteien berichtigt werden. Ein lediglich unrichtiger Tatbestand kann nicht über §§ 520 Abs. 3 Nr. 3, 529 ZPO korrigiert werden.[106]

[106] OLG Karlsruhe NJW-RR 2003, 891.

1. Die Wirkung des Tatbestands

 

Rz. 114

Der Tatbestand eines erstinstanzlichen Urteils erbringt nach § 314 ZPO zunächst vollen Beweis für das mündliche Parteivorbringen und kann insoweit nur durch das Sitzungsprotokoll entkräftet werden. Der Urteilstatbestand beweist aber nicht nur, dass das, was in ihm als Parteivortrag ausdrücklich wiedergegeben wird, tatsächlich vorgetragen worden ist, sondern auch, dass der gesamte Inhalt der im Tatbestand in Bezug genommenen Schriftsätze vorgetragen worden ist.[107] Insoweit ist der Begriff des Tatbestands sehr weit gefasst und kann auch den Inhalt der bei den Gerichtsakten befindlichen Schriftsätze erfassen.[108]

 

Rz. 115

 

Hinweis

Damit hat sich die neuere Rechtsprechung aus der Falle geholfen, dass der Tatbestand einerseits nur den Sach- und Streitstand seinem wesentlichen Inhalt nach knapp wiedergegeben soll, andererseits bei einem engen Verständnis des Beweiswertes mit einer kaum beherrschbaren Zahl von Tatbestandsberichtigungsanträgen zu rechnen gewesen wäre. Für den Bevollmächtigten ist also wichtig, dass der Tatbestand möglichst eine Bezugnahme auf die Schriftsätze enthält. Ist dies nicht der Fall, muss der Tatbestand tatsächlich intensiv auf seine Vollständigkeit und Richtigkeit hin geprüft werden.

 

Rz. 116

An die Feststellungen des so verstandenen Tatbestands ist das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO grundsätzlich gebunden.

 

Rz. 117

 

Hinweis

Der Tatbestand erbringt nicht nur Beweis über die vorgetragenen Tatsachen, sondern auch über solche Tatsachen, die nicht vorgetragen wurden.[109] Demgegenüber erfasst die Beweiskraft nach § 314 ZPO nicht das eigentliche Prozessgeschehen[110] und auch nicht den Inhalt nicht nachgelassener Schriftsätze.[111]

 

Rz. 118

Am Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils wird gemessen, ob ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel neu ist und damit nur unter den strengen Voraussetzungen des § 520 Abs. 3 Nr. 4 i.V.m. § 531 ZPO geltend gemacht werden darf. Ist das Angriffs- und Verteidigungsmittel also schon in der ersten Instanz vorgetragen worden, jedoch im Tatbestand nicht erwähnt, muss der Tatbestandsberichtigungsantrag nach § 320 ZPO gestellt werden, damit sich die Partei in der Berufungsinstanz uneingeschränkt auf dieses Angriffs- oder Verteidigungsmittel berufen kann.

 

Rz. 119

 

Beispiel

Das OLG Rostock hat entschieden, dass eine im Tatbestand des angefochtenen Urteils als unstreitig dargestellte Tatsache, die in den erstinstanzlichen Schriftsätzen umstritten war, als unstreitig für das Berufungsgericht bindend ist, wenn der Tatbestand nicht berichtigt wurde. Das wiederholte Bestreiten sei dann neues Vorbringen i.S.d. § 531 ZPO. Dies kann nach Auffassung des Autors aber nur gelten, wenn der Tatbestand nicht zugleich eine Bezugnahme auf die wechselseitigen Schriftsätze enthält und damit ein Widerspruch entsteht.

[107] BGH NJW 2004, 3777.
[108] Vgl. hierzu BGH NJW 2004, 1876.
[109] OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.5.2011 – I-14 U 20/11 –, juris; BGH MDR 1983, 384.
[111] OLG Köln NJW-RR 1991, 1536.

2. Der Begriff des Tatbestands

 

Rz. 120

Der Begriff des Tatbestands im Sinne von §§ 314, 529 ZPO geht dabei über den als Tatbestand überschriebenen Teil des Urteils hinaus. Vom materiellen Tatbestandsbegriff der ZPO werden vielmehr alle Tatsachenfeststellungen im Urteil umfasst, auch wenn sich diese in den Entscheidungsgründen befinden.[112]

 

Rz. 121

Dies bedeutet zugleich, dass auch Urteile, die keinen eigentlichen Tatbestand haben, sondern nur Entscheidungsgründe im Hinblick auf einen Antrag auf Tatbestandsberichtigung nach § 320 ZPO geprüft werden müssen, wenn sich die tatsächlichen Feststellungen aus den Entscheidungsgründen ergeben, dort etwa festgehalten ist, dass eine bestimmte Tatsachenbehauptung nicht bestritten worden sei.[113]

 

Rz. 122

Macht das erstinstanzliche Gerich...

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