Rz. 124
Gem. Art. 4 Abs. 1 EuGVVO sind vorbehaltlich abweichender Vorschriften der Verordnung Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen (Allgemeiner Gerichtsstand). Der "Wohnsitz" einer Gesellschaft oder juristischen Person befindet sich für die Anwendung der EuGVVO dabei an dem Sitz der Gesellschaft. Art. 63 Abs. 1 EuGVVO definiert den Sitz autonom. Dabei enthält die EuGVVO keine einheitliche Definition des Sitzes, sondern gleich derer drei.
Zitat
Artikel 63
(1) Gesellschaften und juristische Personen haben für die Anwendung dieser Verordnung ihren Wohnsitz an dem Ort, an dem sich
a) |
ihr satzungsmäßiger Sitz, |
b) |
ihre Hauptverwaltung oder |
c) |
ihre Hauptniederlassung |
befindet.
Diese drei verschiedenen Definitionen des Sitzes der Gesellschaft sind nebeneinander anwendbar, ohne dass sich eine spezifische Rangfolge ergibt. Der Kläger hat also die freie Wahl, wo er seine Klage erheben will. Art. 4, 63 EuGVVO regeln jedoch nur die internationale Zuständigkeit; die örtliche Zuständigkeit in Deutschland folgt dagegen aus § 17 Abs. 1 ZPO, der auf den Satzungssitz und bei dessen Nichtfeststellbarkeit auf den realen Verwaltungssitz abstellt. Befindet sich nur die Hauptniederlassung im Inland, ist § 21 ZPO anwendbar.
Entscheidend für die internationale Zuständigkeit sind damit folgende drei Faktoren:
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Der satzungsmäßige Sitz: Gemeint ist damit der (formale) Sitz der Gesellschaft, wie er sich aus der Satzung ergibt. Ein darüberhinausgehender realwirtschaftlicher Bezug ist nicht erforderlich. Insb. stellt eine Verwaltungs- oder Geschäftstätigkeit am Ort des Satzungssitzes keine Voraussetzung dar. |
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Die Hauptverwaltung: Hiermit ist der Ort gemeint, an dem die Willensbildung und die eigentliche unternehmerische Leitung der Gesellschaft erfolgt, also meist der Sitz der Organe, z.B. der Sitz des Vorstands. Bei straff in den Konzern eingegliederten Gesellschaften kann dieser Sitz mit dem Sitz der Konzernmutter zusammenfallen. |
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Die Hauptniederlassung: Dies ist der Ort, an dem der tatsächliche Geschäftsschwerpunkt liegt, bei einer Fabrik also die zentrale Produktionsstätte, ansonsten der Ort, an dem sich die wesentlichen Personal- und Sachmittel konzentrieren. Damit entspricht diese letzte Definition der Festlegung des "tatsächlichen Sitzes der Hauptverwaltung", wie er aufgrund der Sitztheorie in Deutschland zur Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts dient. |
Rz. 125
Aus Art. 7 Nr. 5 EuGVVO ergibt sich darüber hinaus für Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung die zusätzliche Zuständigkeit des Gerichts des Ortes, an dem sich diese Niederlassung befindet. Aus der Erwähnung der Zweigniederlassung folgt, dass der Begriff der Niederlassung weiter als der Begriff der Zweigniederlassung zu verstehen ist. Damit ist jede Außenstelle eines Stammhauses gemeint, die auf Dauer angelegt ist, eine Geschäftsführung hat und sachlich so ausgestattet ist, dass sie in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese – obgleich sie wissen, dass möglicherweise ein Rechtsverhältnis mit dem im Ausland ansässigen Stammhaus begründet wird – sich nicht unmittelbar an dieses zu wenden brauchen, sondern Geschäfte an dem Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit abschließen können, der dessen Außenstelle ist. Diese Definition stellt den Vertrauensschutzcharakter in den Vordergrund. Die praktische Dimension dieser Zuständigkeit mag insb. darin liegen, dass sie die Zuständigkeit in den Fällen zu begründen vermag, in denen der Kläger zu Unrecht eine Zuständigkeit nach Art. 4 i.V.m. Art. 63 Abs. 1 Buchst. b) (Hauptverwaltung) bzw. Buchst. c) EuGVVO (Hauptniederlassung) angenommen hatte.