Rz. 33
War mit der Sitztheorie die weitgehende Beibehaltung inländischer Schutzmechanismen durch die weite Qualifikation des Begriffs des Gesellschaftsstatuts gewährleistet, drehte sich dieses Verhältnis durch die Geltung des Gründungsstatuts nun um: Da diese das Eindringen ausländischer Gesellschaften in den inländischen Rechtsverkehr unter Anerkennung des ausländischen Gesellschaftsstatuts mit sich brachte, galt es nun, zur Wahrung bislang unangetasteter inländischer "Schutzstandards", den Bereich des Gesellschaftsstatuts eng zu interpretieren. Hierbei sollten v.a. solche Vorschriften, die dem Schutz und den Interessen an der Gesellschaft nicht beteiligter Dritter dienen, solchen Kollisionsnormen zugewiesen werden, deren Anknüpfungspunkte bei hauptsächlich im Inland tätigen Gesellschaften zur Geltung deutschen Rechts führen.
Solche Bestrebungen haben durch die Entscheidung des EuGH in "Inspire Art" einen Dämpfer erhalten. In jener Entscheidung stand ein niederländisches Gesetz auf dem Prüfstand, welches für ausländische Gesellschaften mit tatsächlichem Sitz in den Niederlanden eine Reihe von Sonderregelungen enthielt. Die persönliche gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer für den Fall, dass die Gesellschaft ihren (richtlinienkonform angeordneten) Offenlegungspflichten nicht nachkommt, billigte der EuGH zwar unter dem Vorbehalt, dass diese Regelung die Gesellschaft nicht gegenüber niederländischen Gesellschaften benachteiligt. Das Erfordernis der ausdrücklichen Firmierung der ausländischen Gesellschaft als "formal ausländische Gesellschaft" verstieß jedoch nach Ansicht des EuGH gegen die Zweigniederlassungsrichtlinie, welche die Offenlegungspflichten abschließend bestimmt. Ebenso verstoße die Pflicht zur Anmeldung über die Zweigniederlassungsrichtlinie hinausgehender Informationen, wie über den Alleingesellschafter, und die Verpflichtung zur Vorlage einer Erklärung von Wirtschaftsprüfern, dass die Gesellschaft bzgl. des eingezahlten Mindestkapitals die Voraussetzungen erfülle, gegen die Niederlassungsfreiheit, da die Zweigniederlassungsrichtlinie die Offenlegungspflichten abschließend bestimme. Das Gleiche gelte für die Erstreckung der Bestimmungen des niederländischen Rechts über das Mindeststammkapital und die Haftung der Geschäftsführer auf diese Gesellschaft. Die Gesellschaft könne sich auch dann auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn sie nur deshalb im Ausland gegründet worden sei, um die strengeren Vorschriften des niederländischen Rechts zu umgehen.
Rz. 34
Ausnahmsweise kann ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt sein, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind (Vier-Konditionen-Test):
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die Beschränkungen müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, |
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sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, |
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sie müssen zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich sein und |
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dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. |
Dieser Vier-Konditionen-Test führt dazu, dass auch bei Zuordnung gewisser Rechtsfragen aus dem Gesellschaftsrecht hinaus in solche Rechtsgebiete, die regelmäßig dem Bereich der allgemeinen Verkehrsvorschriften angehören das Ergebnis jedenfalls daran zu messen ist, ob es die Niederlassungsfreiheit berührt und ob es nach dem Vier-Konditionen-Test gerechtfertigt ist. Dadurch allein, dass eine bestimmte Rechtsfrage aus dem Bereich des Gesellschaftsrechts dem Delikts- oder Insolvenzrecht zugeordnet wird, lässt sich also die "Europäische Gründungstheorie" noch nicht aushebeln.