Rz. 15
Art. 49 AEUV verbietet sämtliche Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (primäre Niederlassungsfreiheit). Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind (sekundäre Niederlassungsfreiheit). Art. 54 AEUV erstreckt diese Freiheiten auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben.
Wegen dieses klaren Wortlauts ging die Lehre zunächst davon aus, die Sitztheorie verstoße insoweit gegen die Niederlassungsfreiheit, als bei einer in einem anderen Mitgliedstaat gegründeten Gesellschaft die Anerkennung in Deutschland nicht mehr gegeben sei, wenn der effektive Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt worden ist.
Rz. 16
Im Jahr 1988 entschied der EuGH im Fall "Daily Mail", dass Großbritannien nicht das Recht auf Niederlassungsfreiheit verletze, wenn es die Verlegung der Geschäftsleitung einer Gesellschaft von London aus in die Niederlande von einer vorherigen Genehmigung durch das englische Schatzamt abhängig mache, und prägte dabei die folgenden Leitsätze:
Zitat
"Der EWG-Vertrag betrachtet die Unterschiede, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen Anknüpfung sowie der Möglichkeit und ggf. der Modalitäten einer Verlegung des satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen, als Probleme, die durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtssetzung oder des Vertragsschlusses bedürfen; eine solche wurde jedoch noch nicht gefunden. Unter diesen Umständen gewähren die Art. 52 und 58 EWG-Vertrag beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet ist und in diesem ihren satzungsmäßigen Sitz hat, nicht das Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen."
Die Richtlinie 73/148 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs betrifft nach Titel und Text nur Reise und Aufenthalt von natürlichen Personen. Aufgrund ihres Inhalts können ihre Bestimmungen auf juristische Personen nicht analog angewandt werden. Die Richtlinie 73/148 gibt daher einer Gesellschaft nicht das Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.“
Rz. 17
Der Fall hatte eigentlich mit der Sitztheorie nichts zu tun, denn in Großbritannien galt schon damals die Gründungstheorie. Für die Verlegung der Geschäftsleitung in das Ausland war allein aus steuerlichen Gründen die Genehmigung (Offenlegung stiller Reserven vor der "Entstrickung") erforderlich. Der EuGH führte aus, die Gleichstellung der Anknüpfungsmerkmale des Satzungssitzes, der Hauptverwaltung und der Hauptniederlassung in Art. 58 EGV zeige, dass der EG-Vertrag die Bestimmung des Gesellschaftsstatuts und die Zulässigkeit und Folgen grenzüberschreitender Sitzverlegungen als Probleme ansehe, die durch den Vertrag nicht unmittelbar gelöst würden.
Rz. 18
Dieses obiter dictum wurde von der herrschenden Lehre und der Rspr. als Bestätigung dafür genommen, dass die der Gewährung der Niederlassungsfreiheit vorgreifliche Frage, ob eine Gesellschaft wirksam gegründet und überhaupt rechtsfähig sei, vom nationalen Kollisionsrecht entschieden und unter Zugrundelegung der Sitztheorie verneint werden dürfe.
Diese Zuversicht währte bis zur Entscheidung des EuGH in Sachen "Centros" vom 9.3.1999. Dort hatten zwei in Dänemark lebende Dänen in England die Centros Ltd. als private limited company mit einem Stammkapital von 100 £ gegründet. Alleiniger Zweck der Gesellschaft war die Errichtung einer Zweigniederlassung durch die Centros Ltd. in Dänemark. Die dänischen Behörden lehnten die Eintragung der "Zweigniederlassung" in das Handelsregister mit der Begründung ab, dass die Gesellschafter mit der Errichtung der limited company in England und der anschließenden Errichtung der Zweigniederlassung in Dänemark die Aufbringung des vom dänischen Recht vorgeschriebenen Mindestkapitals umgehen wollten – was von den Klägern nicht bestritten wurde.
Rz. 19
Der EuGH erklärte die Verweigerung der Eintragung der Zweigniederlassung durch die dänischen Behörden für unzulässig. Die Ablehnung verletze das im EU-Vertrag niedergelegte Recht auf Niederlassungsfreiheit. Die Ausnutzung in einem anderen Mitgliedstaat geltender vorteilhafter gesellschaftsrechtlicher Bestimmungen sei legitim und dürfe nicht als Missbrauch behandelt werden.
Die Entscheidung löste in Deutschland ei...