Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 1602
Nach zutreffender Ansicht können Arbeitgeber für den Fall, dass ein angestellter Versicherungsvermittler nicht tarifvertragsgebunden ist, die Rückforderung einer etwaigen Überzahlung nicht rechtswirksam auf § 19 MTV für das private Versicherungsgewerbe stützen.
Tarifvertragsgebundene Angestellte des Werbeaußendienstes erhalten ein Mindesteinkommen (Teil III § 19 Ziff. 1 MTV). Hier heißt es weiter:
Zitat
"Auf das Mindesteinkommen sind die verdienten Provisionen anzurechnen, wenn nichts anderes vereinbart ist. Das Mindesteinkommen nach § 3 Ziff. 2 GTV ist jedoch in Höhe von 515,00 (ab 1.11.2022: 520,00 EUR) unverrechenbar."
§ 19 Ziff. 3 MTV regelt die Verrechnung wie folgt:
"Die Gesamtabrechnung erfolgt mindestens einmal jährlich. Bei neueingestellten oder aus dem Innendienst in den Außendienst wechselnden Angestellten, die an der Ausbildung "geprüfte/r Versicherungsfachmann/ -frau (IHK)" teilnehmen, erfolgt die erste Gesamtabrechnung nach drei Monaten, die zweite nach weiteren drei Monaten."
Bei Ausscheiden innerhalb des Abrechnungszeitraumes hat die/der Angestellte Anspruch auf eine entsprechende anteilige Abrechnung. Ein etwa verbleibender Schuldsaldo wird in jedem Fall abgeschrieben, soweit durch die Nichtabschreibung des Schuldsaldos die tatsächlichen Bezüge unter dem Mindesteinkommen des Abrechnungszeitraumes liegen. Ein Schuldsaldo, der sich aus der Verrechnung mit Reisekosten ergibt, wird auch insoweit abgeschrieben, als durch die Nichtabschreibung die vereinbarten Reisekosten des Abrechnungszeitraumes unterschritten werden.“
Gemäß § 19 Ziff. 3 MTV erfolgt also für jede angestellte Vertriebskraft mindestens jährlich eine Abrechnung. Im Falle der Beendigung innerhalb des Abrechnungszeitraums hat er Anspruch auf anteilige Abrechnung des tarifvertraglichen Mindesteinkommens. Das Abrechnungsergebnis ist maßgebend für die Frage, ob eine Rückforderung im Falle des Ausscheidens aus dem Betrieb erfolgen kann. Wird das tarifvertragliche monatliche Mindesteinkommen nicht durch die verdienten Provisionen und Festbezüge erreicht, sind "Auffüllbeträge" durch den Arbeitgeber zu zahlen. Diese Zahlungen stehen unter dem Vorbehalt der späteren Verrechnung beziehungsweise Rückforderung bei Beendigung (Timmermann, Rückzahlungsansprüche im angestellten Versicherungsvertrieb, VersicherungsJournal.de).
Tarifvertragliche Inhalts-, Abschluss und Beendigungsnormen entfalten grundsätzlich nur zwischen beiderseits tarifgebundenen eine unmittelbare und zwingende Wirkung (§ 3 Abs. 1 TVG). Demgegenüber besteht eine normative Wirkung tarifvertraglicher Regelungen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen (§ 3 Abs. 2 TVG), d.h. es genügt bereits die Tarifbindung des Arbeitgebers.
Allerdings handelt es sich nach entsprechender Auslegung der Tarifnorm des § 19 Ziff. 3 MTV weder um eine betriebliche noch um eine betriebsverfassungsrechtliche Regelung mit der Folge, dass tarifvertragsgebundene Arbeitgeber die Rückzahlung einer Überzahlung in vorgenanntem Sinne gegenüber nicht tarifvertragsgebundenen angestellten Vertriebskräften nicht wirksam auf Grundlage des § 19 Ziff. 3 MTV geltend machen können. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages erfolgt nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften (BAG 22.4.2010 – 6 AZR 962/08 = NZA 2011, 1293). Betriebliche bzw. betriebsverfassungsrechtliche Normen sind solche, die sachnotwendig nur einheitlich geregelt werden können. Ausgehend von dem Wortlaut des § 19 MTV ergibt sich jedoch, dass die Parteien in § 19 Ziff. 3 MTV die Möglichkeit einer anderweitigen, d.h. individualvertraglichen Regelung ausdrücklich zulassen. Wenn jedoch anderweitige Regelungen nach dem Wortlaut möglich sein sollen, geben die Tarifvertragsparteien damit zu erkennen, dass die Verrechnungsregelung des § 19 Ziff. 3 MTV gerade keine Regelung ist, die sachnotwendig nur einheitlich erfolgen kann.