Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 762
Wünschenswert wäre es, wenn der Gesetzgeber eine für alle drei tangierten Rechtsgebiete (Arbeits-, Sozialversicherungs- und Steuerrecht identische und möglichst eindeutige Definition des freien Mitarbeiters bzw. eine Definition der Abgrenzung zwischen selbstständiger und nichtselbstständiger Arbeit vorgegeben oder zumindest einheitliche Begriffe verwandt hätte. Dem ist jedoch nicht so und liegt im Wesentlichen daran, dass der Gesetzgeber in den jeweiligen Rechtsgebieten unterschiedliche Intentionen verfolgt (s. im Einzelnen unten Rdn 1058 zum Arbeitnehmerschutz, Fiskalinteresse, Stabilität der Sozialversicherungssysteme). Mit einer Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) ist nicht zu rechnen.
Auch mit der Reform des sozialversicherungsrechtlichen Statusfeststellungsverfahrens zum 1.4.2022 hat der Gesetzgeber es im Ergebnis wiederum nicht geschafft, einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff für alle betroffenen Rechtsgebiete (Arbeits-, Steuer- und Sozialversicherungsrecht) zu entwickeln (vgl. die instruktive und differenzierende Darstellung/Übersicht der Unterschiede im Steuer-, Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht des LSG Niedersachsen-Bremen v. 19.1.2021 – L 1 BA 61/20 B ER, www.sozialgerichtsbarkeit.de, S. 7). Dies ist umso bedauerlicher, als die Problematik seit Jahrzehnten bekannt ist (vgl. grundlegend Kunz/Kunz, DB 1993, 326). Wegen des fehlenden Gleichklangs entstehen in der Praxis immense Kostenrisiken und Rechtsunsicherheit, auch weil die Gerichtszweige untereinander bei ein und demselben Sachverhalt keinerlei Bindungswirkung unterliegen (vgl. Henssler, NZA Beilage 3/2014, 95, 98).
Rz. 763
So "erinnert" beispielsweise der BFH in ständiger Rechtsprechung regelmäßig daran, dass es bei dem Grundsatz bliebe, dass sich der sozialversicherungsrechtliche und der arbeitsrechtliche Arbeitnehmerbegriff von dem einkommensteuerrechtlichen Arbeitnehmerbegriff des § 19 EStG unterscheide und jedenfalls nicht deckungsgleich sein müsse (vgl. BFH v. 9.7.2012 – VI B 38/12; dieser Rspr. folgend FG Köln v. 27.11.2019 – 13 K 927/16, juris Rn 60, 61; FG Rheinland-Pfalz v. 23.1.2014 – 6 K 2294/11; BFH v. 24.10.2006, BFH/NV 2007, 446 m.w.N., vgl. ferner Freckmann, DB 2013, 459, 462). Auch das BAG sieht die sozial- und steuerrechtliche Einordnung nicht als ausschlaggebend für die arbeitsrechtliche Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft an (vgl. BAG v. 30.11.2021 – 9 AZR 145/21, juris Rn 56/57 m.w.N.; so bereits BAG v. 26.5.1999 – 5 AZR 469/89). Die sozialversicherungsrechtliche Bewertung einer bestimmten Tätigkeit könne für deren arbeitsrechtliche Beurteilung keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen (vgl. BAG v. 26.6.2019 – 5 AZR 178/18, juris Rn 17; LAG Köln v. 12.3.2020 – 8 Sa 507/19, juris Rn 36). Denn das sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis und das Arbeitsverhältnis seien nicht identisch (vgl. BAG v. 30.11.2021 – 9 AZR 145/21, juris Rn 56; LAG Nürnberg v. 14.4.2021 – 4 Ta 148/20, juris Rn 26), und ebenso wenig bestimme die steuerrechtliche Behandlung des Rechtsverhältnisses durch die Parteien die Rechtsnatur des Vertrags (vgl. BAG v. 30.11.2021 – 9 AZR 145/21, juris Rn 57). Das BSG führt aus, dass der steuerrechtliche Begriff des Arbeitnehmers sich nicht immer zwingend mit den in anderen Rechtsgebieten verwandten Begriffen decke (vgl. BSG v. 4.6.2019 – B 12 R 11/18 R, juris Rn 19: kein völliger Gleichklang), wobei nach Auffassung der Rentenversicherungsträger – und des BSG sowie einer Reihe von Sozialgerichten (vgl. die Übersicht zur Rspr. der Instanzgerichte von Stindt, NZS 2018, 481) – bei der mitunter schwierigen Abwägung auch nicht auszuschließen sei, dass die sozialgerichtlichen Bewertungen sich im Einzelfall selbst von den arbeitsgerichtlichen unterscheiden (vgl. Diepenbrock, Leiter des Betriebsprüfdienstes der Deutschen Rentenversicherung Westfalen, NZS 2016, 127, 128 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des BSG gibt es Fallgruppen, bei denen die Begriffe des sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungs- und arbeitsrechtlichen Arbeitsverhältnisses auseinanderfallen (vgl. BSG v. 26.9.2017 – B 1 KR 31/16 R). Das BSG steht auf dem Standpunkt, dass eine uneingeschränkte Parallelität sozialversicherungsrechtlich – bzw. arbeitsrechtlich – und im Gesellschaftsrecht relevanter Beziehungen von vornherein nicht vorliege. Daran ändere auch nicht das Gebot der Wahrung der Einheit der Rechtsordnung (vgl. BSG v. 11.11.2015 – B 12 KR 13/14 R, juris Rn 24; vgl. ferner zur Rechtsprechung des BAG v. BSG v. BFH im Einzelnen unten Rdn 813, Rdn 1015 ff., 1021 und zusammenfassend unten Rdn 1057 ff.).
Rz. 764
Trotz des großen Bedarfs an Rechtssicherheit und -klarheit hat es der Gesetzgeber bei allen Gelegenheiten letztlich immer wieder versäumt, eine einheitliche Regelung für alle betroffenen Rechtsgebiete zu schaffen. Die Hoffnungen der Praxis wurden auch b...