Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 557
Der BGH stellt in ständiger Rechtsprechung darauf ab, dass Aufsichtsratsmitglieder – gemeint ist "jedes" Mitglied des AR’s, nicht nur einzelne – diejenigen Mindestkenntnisse und -fähigkeiten besitzen oder sich aneignen müssen, die sie brauchen, um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen zu können (vgl. BGH v. 15.11.1982 – II ZR 27/82 Hertie-Entscheidung; BGH v. 4.12.2012 – II ZR 111/12 Piëch-Entscheidung, Bestätigung der Vorinstanz). Diese Mindestqualifikation nach der Rspr. des BGH, auch Basisqualifikation genannt, ist eine hohe Messlatte allein schon für die Mindestqualifikation eines jeden einzelnen Aufsichtsratsmitglieds, die gleichermaßen bei der Aufsichtsratsbesetzung in nichtbörsen- und börsennotierten Unternehmen der Privatwirtschaft wie in öffentlich-rechtlichen Beteiligungen, beispielsweise bei städtischen Stadtwerken oder Kliniken, zu beachten ist. In börsennotierten Unternehmen gehört die umfassende Kenntnis des Deutschen Corporate Governance Kodex (www.dcgk.de) zur Basisqualifikation eines jeden Aufsichtsratsmitglieds. In Unternehmen der öffentlichen Hand ist regelmäßig die Kenntnis des jeweiligen Public Kodex (www.dcg-musterkodex.de) erforderlich.
Rz. 558
Ob bzw. inwieweit die vom BGH geforderte Mindestqualifikation von jedem einzelnen Aufsichtsratsmitglied erfüllt ist, ist nicht immer einfach zu beantworten, ist jedenfalls eine Frage des Einzelfalls, und es gibt zahlreiche unterschiedliche Lösungsansätze. Einigkeit besteht, dass ein Aufsichtsrat, der nicht über die erforderliche Mindestqualifikation/-kompetenz verfügt, im Fall der Fälle einem erhöhten Haftungsrisiko unterliegt (vgl. BGH v.18.9.2018 – II ZR 152/17, juris zum Schadensersatzanspruch gegen einen AR wegen Verjährenlassens von Ersatzansprüchen gegen den Vorstand; OLG Hamm v. 6.4.2022 – 8 U 73/12, juris zur unterlassenen Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern durch den Aufsichtsrat). Etwaige Defizite können allerdings auch noch nach der Bestellung zum Aufsichtsrat durch Schulungen und Fortbildung ausgeglichen werden; dieses "Hintertürchen" hat der BGH offengelassen.
Rz. 559
Unverzichtbar dürfte zur Mindestqualifikation eine entsprechende umfassende Berufserfahrung gehören. Diese – in entsprechenden Funktionen gewonnene – langjährige Berufserfahrung verlangt insbesondere auch die Deutsche Börse als Grundvoraussetzung von Kandidaten, um für die freiwillige Prüfung zum qualifizierten Aufsichtsrat, in der die fachliche Kompetenz zur Übernahme eines Aufsichtsratsmandats von der Deutschen Börse überprüft wird, zugelassen zu werden. Denn ein entsprechender fachlicher Qualifikationsnachweis – ggf. auch von Relevanz in einem etwaigen Haftungsfall – kann durch eine von der Deutschen Börse AG angebotene Prüfung Qualifizierter Aufsichtsrat erbracht werden. Teilnahmevoraussetzungen sind die Erfüllung beruflicher, persönlicher und fachlicher Zulassungsvoraussetzungen (vgl. zur Prüfung durch die Deutsche Börse AG und entsprechenden von der Deutschen Börse AG zertifizierten Vorbereitungslehrgängen www.qaif.de sowie www.deutsche-boerse.com und www.deutsche-qualifizierte-aufsichtsraete.de).