Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 1030
Die Behandlung eines Beschäftigten als freier Mitarbeiter, der nach den tatsächlichen Gegebenheiten als Arbeitnehmer anzusehen ist, führt zwangsläufig zur Nichtbeachtung der Grundsätze des Lohnsteuerabzugsverfahrens und damit zur Nichtabführung von Lohnsteuer. Bei der Nachholung der Lohnversteuerung stellt sich die Frage, ob von einer Netto- oder von einer Bruttolohnvereinbarung auszugehen ist. Der BFH steht auf dem Standpunkt, dass dann, wenn der Lohnsteuerabzug unterblieben ist, weil die Beteiligten irrtümlich von Freier Mitarbeit ausgegangen sind, (nur) die zugeflossenen Einnahmen (Barlohn und Sachbezüge) als Arbeitslohn zu erfassen sind und nicht ein hochgerechneter Bruttolohn, der sich ergäbe, wenn den zugeflossenen Beträgen die auf sie entfallenden Lohnsteuerbeträge zugerechnet würden (vgl. BFH v. 23.4.1997 – VI R 12/96, BFH/NV 1997, 656). Soweit die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder berechnet werden können, hat sie die Finanzbehörde nach § 162 AO bzw. das Finanzgericht nach § 96 Abs. 1, 2. Hs. FGO i.Vm. § 162 AO zu schätzen. Nach der Rspr. des BFH müssen die Schätzergebnisse schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (vgl. BFH v. 18.6.2015 – VI R 77/12; BFH v. 29.5.2008 – VI R 11/07). Eine nicht sachgerechte Schätzung der Finanzbehörde ist durch eine eigene Schätzung des Gerichts zu ersetzen (vgl. BFH v. 29.5.2008 – VI R 11/07, juris). § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 FGO räumt die Schätzungsbefugnis des § 162 AO auch dem FG ein (vgl. FG Hessen v. 29.11.2017 – 4 K 1709/15, juris Ls. 2 u. Rn 71).
Hinweis zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen
Kommt es zu einer Schätzung durch das Finanzgericht, muss die finanzgerichtliche Entscheidung in einer für die Revisionsinstanz nachprüfbaren Weise erkennen lassen, dass die finanzgerichtliche Schätzung den Anforderungen an eine möglichst wirklichkeitsnahe Schätzung entspricht (vgl. BFH v. 18.6.2015 – VI R 77/12).
Rz. 1031
Schuldner der Lohnsteuer ist gem. § 38 Abs. 2 EStG der Arbeitnehmer.
Rz. 1032
Praxistipp
1. |
Der Arbeitgeber ist gem. § 41c Abs. 1, 2. Alt. EStG berechtigt, bei der jeweils nächstfolgenden Lohnzahlung bisher noch nicht erhobene Lohnsteuer unter bestimmten Voraussetzungen nachträglich einzubehalten. |
2. |
Dies kann ggf. als (Teil-)Weg für den Arbeitgeber bei einem bestehenden Arbeitsverhältnis in Betracht kommen. |
3. |
Nach Ablauf des Kalenderjahres oder, wenn das Dienstverhältnis vor Ablauf des Kalenderjahres endet, nach Beendigung des Dienstverhältnisses ist die Änderung des Lohnsteuerabzugs gem. § 41c Abs. 3 S. 1 EStG nur bis zur Übermittlung oder Ausschreibung der Lohnsteuerbescheinigung zulässig. |
4. |
Zu berücksichtigen ist allerdings die jeweils im Einzelfall in Rede stehende (zu) hohe Gesamtsumme, die sich möglicherweise über viele Monate aufaddiert hat. |
Rz. 1033
Neben dem Arbeitnehmer haftet der Arbeitgeber dafür, dass die Lohnsteuer richtig einbehalten und abgeführt wird (§ 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG). Soweit die Haftung des Arbeitgebers reicht, sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber gem. § 42d Abs. 3 S. 1 EStG Gesamtschuldner. Das Finanzamt kann von jedem Gesamtschuldner die ganze Lohnsteuer fordern; die Leistung des einen befreit auch den anderen Schuldner. Es steht nach § 42d Abs. 3 S. 2 EStG im pflichtgemäßen Ermessen des Betriebsstättenfinanzamts, welchen Gesamtschuldner es heranziehen will (vgl. FG München v. 14.12.2007 – 8 K 849/05, EFG 2008, 687). I.R.d. Ermessensprüfung kommt eine Haftung des Arbeitgebers dann nicht in Betracht, wenn die Steuer ebenso schnell und einfach beim Arbeitnehmer beigetrieben werden kann (vgl. BFH v. 12.1.1968 – VI R 117/66, DB 1968, 878 = BStBl II 1968, 324; BFH v. 30.11.1966, DB 1967, 844 = BStBl III 1967, 331) oder die Steuer beim Arbeitnehmer deshalb nicht nachgefordert werden kann, weil seine Veranlagung zur ESt bereits bestandskräftig ist und die für eine Änderung des Steuerbescheides erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen (vgl. BFH v. 9.10.1992 – VI R 47/91, DB 1993, 209 unter Änderung der Rspr. im Urt. v. 26.7.1974 – VI R 24/69, DB 1975, 31 = BStBl II 1974, 756).
Rz. 1034
Die Inanspruchnahme des Arbeitgebers (vgl. LStH 2023 R 42d. 1) ist aber zur Vereinfachung des Verfahrens regelmäßig zulässig, wenn z.B. nach einer Lohnsteueraußenprüfung viele Lohnsteuerbeträge aufgrund im Wesentlichen gleichliegender Sachverhalte nach zu erheben sind (st. Rspr., vgl. BFH v. 18.8.2005 – VI R 32/03, NZA 2005, 1344 = DB 2005, 2330). Anderenfalls wäre das vom Gesetzgeber gewollte vereinfachte Verfahren der Lohnsteuererhebung an der Quelle erheblich beeinträchtigt (vgl. BFH v. 24.1.1992 – VI R 177/88, DB 1992, 2011 = BStBl II 1992, 696, BFH v. 6.3.1980, DB 1980, 1147 = BStBl II 1980, 289). Insofern ist die alleinige Inanspruchnahme des Arbeitgebers auch dann ermessensfehlerfrei, wenn dieser den Steuerabzug bewusst oder leichtfertig versäumt hat (vgl. BFH v. 12.2.2009 – VI R 40/07). So darf das die Haftungsinanspruchnahme prüfende Finanzamt im Rahmen der Ausübung des Entschließungsermessens und Auswahlermessens d...