Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 776
Vielfach wird davon ausgegangen, dass durch die Bezeichnung als freier Mitarbeiter, Solo-Selbstständiger oder Solounternehmer (vgl. zur Bezeichnung: LAG Baden-Württemberg v. 1.8.2013 – 2 Sa 6/13 Rn 104) oder die entsprechende Ausformulierung als freier Mitarbeiter im Vertrag die nötige Konkretisierung erreicht wird, um rechtlich die erstrebten Wirkungen einer selbstständigen Tätigkeit herbeizuführen. Als Argument dafür wird der Grundsatz der Vertragsfreiheit (§§ 241, 311 Abs. 1 BGB) angeführt, wonach es jedem grds. freisteht, seine Rechtsbeziehungen in der für ihn günstigsten Weise zu regeln und die ihm am meisten zusagende Gestaltungsform zu wählen (vgl. LAG München v. 27.5.1999 – 4 Sa 650/98, n.v. – Ausbeiner; vgl. ferner ErfK/Preis, BGB, § 611a Rn 24 ff. zu Umfang und Grenzen der Privatautonomie).
Rz. 777
Dies berücksichtigt jedoch nicht, dass der Grundsatz der Vertragsfreiheit dort seine Grenze findet, wo die Parteien ein Vertragsverhältnis, das sich nach seiner tatsächlichen Ausgestaltung als Arbeitsverhältnis ausweist, sachlich unrichtig einordnen. Aufgrund der schwierigen Abgrenzungsproblematik sind Freie-Mitarbeiter-Verträge daher regelmäßig mit dem Thema Scheinselbstständigkeit verknüpft. Der Status richtet sich grundsätzlich nicht nach den Wünschen und Vorstellungen der Vertragspartner, sondern danach, wie die Vertragsgestaltung nach ihrem Geschäftsinhalt objektiv einzuordnen ist (vgl. BAG v. 21.7.2015 – 9 AZR 484/14). Denn durch Parteivereinbarung kann die Bewertung einer Rechtsbeziehung als Arbeitsverhältnis nicht abbedungen und der Geltungsbereich des Arbeitnehmerschutzrechts nicht eingeschränkt werden (vgl. LAG Köln v. 12.3.2020 – 8 Sa 507/19, juris Rn 31; vgl. ferner bereits BAG v. 24.6.1992 – 5 AZR 384/91, NZA 1993, 174; LAG Düsseldorf v. 5.3.1996 – 16 Sa 1532/95, n.v.; OLG Düsseldorf v. 5.10.1989 – 8 U 95/89, n.v.). Die zwingenden gesetzlichen Regelungen für Arbeitsverhältnisse können nicht dadurch abbedungen werden, dass die Parteien ihrem Arbeitsverhältnis eine andere Bezeichnung geben (vgl. BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 295/18, juris; BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16; BAG v. 17.4.2013 – 10 AZR 272/12; BAG v. 15.2.2012, – 10 AZR 301/10, B 2012, 1342 = NZA 2012, 731; BAG v. 20.1.2010, NZA 2010, 840 = DB 2010, 964; BAG v. 22.8.2001, NZA 2003, 662 = BB 2002, 948). Es besteht Rechtsformenzwang (vgl. zu Grenzfällen und typisierender Betrachtung i.R.d. Gesamtwürdigung, unten Rdn 787–789).
Rz. 778
Den Rechtsformenzwang (= das Verbot u.a. von Werkverträgen in der Fleischindustrie) unterstreicht das mit Wirkung zum 1.1.2021 in Kraft getretene Arbeitsschutzkontrollgesetz (BGBl I 2020, 3334). Es beinhaltet zahlreiche Neuerungen/Änderungen zum Arbeitsschutz in der Fleischindustrie. Diese war aufgrund zum Teil hoher Covid-19 Infektionen in den Blickpunkt geraten und veranlasste den Gesetzgeber zum Handeln. Von großer praktischer Bedeutung sind insbesondere die in Art. 2 des Arbeitsschutzkontrollgesetzes vorgenommenen Änderungen des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch). Nach § 6a GSA Fleisch darf im Kerngeschäft der Fleischwirtschaft, d.h. bei der Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung von Fleisch, kein Fremdpersonal mehr eingesetzt werden, weder über Werk- noch über Leiharbeitsverträge noch durch Selbstständige. Es dürfen nur Arbeitnehmer des Inhabers eingesetzt werden (= eigenes Personal). Damit soll das nur schwer durchschaubare Nebeneinander verschiedenster Beschäftigungsverhältnisse ausgeschlossen werden (s. ausführlich unten Berufsgruppenlexikon von A-Z Fleischverarbeitung Rdn 1154).
Rz. 779
Praxistipp
1. |
Die Entscheidung der Parteien für eine bestimmte Art von Vertrag bedeutet jedoch nicht, dass dies irrelevant wäre (s. auch unten Rdn 791). |
2. |
Kann die vertraglich vereinbarte Tätigkeit die typologisch sowohl in einem Arbeitsverhältnis als auch im Rahmen eines Rechtsverhältnisses, dass einen Selbstständigen verpflichtet, geleistet werden, "ist" die Entscheidung der Vertragsparteien für einen bestimmten Vertragstypus zu berücksichtigen (vgl. BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 295/18, juris Rn 38; BAG v. 21.11.2017 – 9 AZR 117/17, juris Rn 44). |
3. |
Ergibt sich typologisch – sowohl im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als auch eines freien Dienstverhältnisses möglicher Tätigkeit – im Wege der Auslegung der vertraglichen Vereinbarungen, dass die Vertragsparteien sich deutlich für den Vertragstyp des Arbeitsvertrags entschieden haben, ist diese Vertragstypenwahl regelmäßig bindend (vgl. LAG Düsseldorf v. 4.6.2020 – 3 Ta 155/20, juris Ls. 1). |
Rz. 780
Der jeweilige Vertragstypus ergibt sich aus dem wirklichen Geschäftsinhalt (vgl. BAG v. 11.8.2015 – 9 AZR 98/14; BAG v. 17.4.2013 – 10 AZR 272/12; BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 106/09, NZA 2010, 840 = DB 2010, 964 m.w.N.). Nicht der Wortlaut einer Bezeichnung als Freier Mitarbeiter im Vertrag ist ausschlaggebend (vgl. BAG v.1.12.2020 – 9 AZR 102/20, juris Orientierungssatz 3 u. Rn 30; LAG Schleswig-Holstein v. 8.4.2005, NZA ...