Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 893
Rechtlicher Ausgangspunkt der Prüfung, ob die Tätigkeit im Rahmen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird, sind die maßgeblichen vertraglichen Vereinbarungen (vgl. BSG v. 28.6.2022 – B 12 R 3/20 R, juris Rn 12; BSG v. 19.10.2021 – B 12 R 10/20 R, Rn 22; BSG v. 27.4.2021 – B 12 R 16/19 R, juris Rn 14; BSG v. 7.6.2019 – B 12 R 6/18 R, juris Rn 34 u. 35; BSG v. 7.6.2019 – B 12 R 6/18 R, juris Rn 34 u. 35; BSG v. 4.6.2019 – B 12 R 11/18 R, juris Rn 15; BSG v. 4.9.2018 – B 12 KR 11/17 R, juris; BSG v. 14.3.2018 – B 12 KR 3/17 R, juris Rn 13). Liegen schriftliche Vereinbarungen vor, so ist neben der Vereinbarkeit mit zwingendem Recht auch zu prüfen, ob mündliche oder konkludente Änderungen erfolgt sind. Diese sind ebenfalls nur maßgebend, soweit sie rechtlich zulässig sind (vgl. Hessisches LSG v. 17.1.2022 – L 8 BA 40/21, juris Rn 30). Über zwingende Normen kann gem. § 32 SGB I nicht im Wege der Privatautonomie verfügt werden (vgl. LSG Berlin-Brandenburg v. 18.11.2022 – L 4 BA 33/18, juris Rn 50).
Kann eine Tätigkeit sowohl aufgrund einer Beschäftigung als auch selbstständig erbracht werden, kommt den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmer/Auftragnehmer und Arbeitgeber/Auftraggeber zwar keine allein ausschlaggebende, doch eine gewichtige Rolle zu (vgl. BSG v. 14.3.2018 – B 12 R 3/17 R, juris; dieser BSG-Rspr. folgend: SG Köln v. 10.1.2019 – S 13 R7 138/17, juris). Zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit ist dabei regelmäßig vom – wahren und wirksamen – Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen auszugehen. Allerdings darf es sich nicht um einen bloßen "Etikettenschwindel" handeln (vgl. BSG v. 4.9.2018 – B 12 KR 11/17 R, juris; BSG v. 24.3.2016 – B 12 KR 20/14 R, juris; BSG v. 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R), der u.U. als Scheingeschäft i.S.d. § 117 BGB zur Nichtigkeit dieser Vereinbarungen und der Notwendigkeit führen kann, ggf. den Inhalt eines hierdurch verdeckten Rechtsgeschäfts festzustellen (vgl. Hessisches LSG v. 17.1.2022 – L 8 BA 40/21, juris Rn 30). Es ist die Ernsthaftigkeit der dokumentierten Vereinbarungen zu prüfen. Auf dieser Grundlage ist eine wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses zum Typus der abhängigen Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit vorzunehmen und in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob besondere Umstände vorliegen, die eine hiervon abweichende Beurteilung notwendig machen (vgl. BSG v. 27.4.2021 – B 12 R 16/19 R, juris Rn 13; BSG v. 24.3.2016 – B 12 KR 20/14 R; BSG v. 29. 8. 2012 – B 12 KR 25/10 R; LSG Berlin-Brandenburg v. 18.11.2022 – L 4 BA 33/18, juris Rn 50). Das BSG geht damit – ebenso das BAG – von einem Typusbegriff der Beschäftigung aus (vgl. BSG v. 26.9.2017 – B 1 KR 31/16 R; kritisch Preis, NZA 2018, 817 ff. typologischer Irrweg). Vgl. zum Rahmenvertrag unten Rdn 898; zu den Besonderheiten einzelner Berufsgruppen das Berufsgruppenlexikon von A bis Z unten Rdn 1067 ff.).
Rz. 894
Hinweis zur (Nicht-) Dispositionsfreiheit der Vertragsparteien
1. |
Es unterliegt nicht der Dispositionsfreiheit der Vertragsparteien, die Wirkungen eines wirksamen Vertrages nach Maßgabe ihrer Individualnützlichkeit auf bestimmte Rechtsgebiete zu beschränken (vgl. LSG NRW v. 26.7.2017 – L 8 R 443/17 B ER unter Bezug auf BSG v. 24.1.2007 – B 12 KR 31/06 R). |
2. |
Insofern kann dem Vortrag, der Vertrag sei im Wesentlichen aus steuerlichen oder haftungsrechtlichen Gründen als unselbstständige Beschäftigung ausgestaltet worden, sozialversicherungsrechtlich sei indes eine selbstständige Tätigkeit gegeben, keine entscheidende Relevanz zukommen. |
3. |
Eine Aufsplittung desselben Vertragsverhältnisses auf das Steuerrecht und das Sozialversicherungsrecht aufgrund Parteiwillens ist nicht möglich. |
4. |
Gleichwohl ist möglich, dass Finanzbehörden und Sozialversicherungsträger genau den gleichen Fall unterschiedlich beurteilen. Diesen unhaltbaren Zustand kann nur der Gesetzgeber lösen (s. oben Rdn 767 ff.; s. unten Rdn 1026). |