Rz. 76

Die Urteilsergänzungsfrist spielt eine Rolle, wenn im Tenor eines Urteils

versehentlich über einen nach dem Tatbestand erhobenen Haupt- oder Nebenanspruch[129] oder über den Kostenpunkt[130] nicht (vollständig) entschieden worden ist (§ 321 ZPO), also eine Entscheidungslücke gegeben ist,

zudem in gesetzlich angeordneten Fällen, wenn im Tenor eines Urteils

ein Vorbehalt fehlt, den der Beklagte benötigt, um seine Rechte im Nachverfahren geltend machen zu können (§ 302 Abs. 2 ZPO und § 599 Abs. 2 ZPO),
über die vorläufige Vollstreckbarkeit oder die Abwendungsbefugnis nicht entschieden worden ist (§ 716 ZPO),
dem Schuldner bei Räumungstitel keine angemessene Räumungsfrist gewährt wurde (§ 721 Abs. 1 ZPO).

Analog anwendbar ist § 321 ZPO darüber hinaus in vergleichbaren Konstellationen, wenn etwa im Tenor

die Vorbehalte beschränkter Haftung nicht aufgenommen worden sind (§§ 305, 780, 786 ZPO).[131]

Das Gericht kann hingegen nicht über ein Zurückbehaltungsrecht, das es bei seiner Entscheidung übersehen hat, im Wege eines Ergänzungsurteils gem. § 321 ZPO entscheiden.[132]

 

Rz. 77

In diesen Fällen ist eine Fehlerkorrektur durch die Berufung grundsätzlich nicht möglich, weil die Beschwer nicht in der getroffenen, sondern in der versehentlich unterlassenen Entscheidung liegt.[133] Allerdings gibt es Ausnahmen, in denen es zu Überschneidungen von Urteilsergänzung und Rechtsmitteleinlegung kommt:

Der "übergangene Anspruch" kann das Urteil inhaltlich unrichtig machen. Das ist der Fall, wenn das erstinstanzliche Gericht ein Vorbehaltsurteil erlässt, ohne dem Beklagten die Geltendmachung seiner Rechte im Nachverfahren vorzubehalten (§§ 302 Abs. 2 und 599 Abs. 2 ZPO). Dann ist neben § 321 ZPO auch die Berufung zulässig.[134]
Ein Berufungsangriff gegen den Kostenpunkt ist möglich, wenn gegen das Urteil auch noch aus anderen Gründen erfolgreich Berufung eingelegt worden ist.[135] Das Berufungsgericht fällt dann von Amts wegen eine Entscheidung über die Kosten des gesamten Rechtsstreits.
Übergeht ein Gericht einen von mehreren Klageanträgen, ist neben dem Ergänzungsverfahren nach § 321 Abs. 1 ZPO auch der Rechtsmittelzug eröffnet, wenn sich dieses Versäumnis nicht nur in einer bloßen Unvollständigkeit der getroffenen Entscheidung erschöpft, sondern zu einem sachlich unrichtigen Urteil führt.[136]
Der "übergangene" Anspruch kann bei einer aus anderen Gründen zulässigen Berufung als neuer Anspruch durch Klageerweiterung eingebracht werden.[137]
Hat das Berufungsgericht versäumt, über die vorläufige Vollstreckbarkeit zu entscheiden und wurde auch die Antragsfrist des § 321 Abs. 2 ZPO nicht eingehalten, kann der Antrag in der Berufungsinstanz noch gem. § 718 ZPO gestellt werden.
[129] Vgl. etwa OLG Düsseldorf FamRZ 1997, 1407.
[130] Vgl. etwa OLG Stuttgart NJW-RR 1999, 116; OLG Hamm NJW-RR 2000, 1524.
[133] Vgl. etwa BGH NJW 2012, 2659, 2660.
[134] BGH NJW-RR 1996, 1238.
[135] Vgl. BGH NJW 2006, 1351.

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